Einmal in jeder Spielzeit dirigiert der gebürtige Berliner Christian Thielemann in ein oder zwei Konzerten die Berliner Philharmoniker. In den letzten Jahren waren dann immer wieder Werke der geistlichen Musk zu hören. In dieser Saison wandte er sich mit Beethovens Missa solemnis der Komposition zu, die ihr Verfasser sein „Hauptwerk“, ja „das gelungenste seiner Geistesprodukte“ nannte. Das Vokalensemble war mit der für Genia Kühmeier kurzfristig eingesprungenen slowakischen Sopranistin Luba Orgonášová, Elisabeth Kulman, Daniel Behle (Tenor) und Franz-Josef Selig (Bass), der gemeinsam mit Elisabeth Kulman schon im letzten Jahr für eine gelungene Aufführung der Missa unter Marek Janowski und dem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin sorgte, hervorragend besetzt und klang in allen Kombinationen sehr homogen. Der von Philipp Ahmann einstudierte Rundfunkchor Berlin ist ohnehin über jeden Zweifel erhaben und längst die feste Größe bei der Mitwirkung bei Chorkonzerten der Berliner Philharmoniker.

Das Kyrie gehört zu den wortarmen Stücken einer Messe und darf sich ruhig entfalten. Den die Trinität musikalisierenden Eröffnungssatz nahm Thielemann zu Beginn so leidenschaftslos-apathisch wie Beethoven den „unbewegten Beweger“ in Tönen wohl dargestellt hatte. Bewegung im Dreiertakt kommt erst im Christe in den Satz, wo die zweite Person der Trinität im Zentrum steht. Dass im dritten Abschnitt dann wie als Synthese die dritte Person hörbar wird, ist in einer Aufführung der Missa mitzudenken, aber nicht zwingend zu erwarten.

Das Gloria ist ganz der Tradition folgend der prunkvoll-äußerlichste Satz der Messe. Dass die Blechbläser die Streicher in dieser Aufführung übertönen, liegt an Beethovens Instrumentation und ist den Interpreten nicht anzulasten. Beethoven ließ im „terra pax“ und vor allem im „Qui tollis“ dunkle Töne in die Partitur einfließen - und schon hier wurde deutlich, dass es die verinnerlichten Passsagen sind, auf die in dieser Aufführung der große Wert gelegt wurde. Dennoch ließen es sich der Dirigent und das Orchester nicht nehmen, in der Fuge und der Stretta zum Schluss mit einer fast messerscharfen Strahlkraft alle Register der Steigerung zu ziehen.

Im Zentrum einer jeden Messe steht das Credo, und diese Aufführung hatte hier ihre ersten ganz großen Momente. Noch jeder Komponist hat in der Vertonung des größten Geheimnisses der Messe (Incarnatus) und der des größten Skandalons, das allerdings Voraussetzung der Heilsgeschichte ist (Cucifixus), größte Sorgfalt gelegt. Daniel Behle ließ dies mit seiner schönen Stimme, begleitet vom Flötensolo und den geflüsterten Chorstimmen, zum großen Ereignis der ganzen Aufführung werden. Die Kreuzigung wurde dann mit aller Härte vom Chor kommentiert. Gewissenhaft wurden darüber hinaus sowohl vom Orchester als auch vom Chor die rhetorischen Figuren intoniert, die Beethoven in diesem Abschnitt so zahlreich dem Satz einkomponiert hat. Abgeschlossen wird das Credo durch die vielleicht umfangreichste Vokalfuge der Musikgeschichte. Die Gemeinde hat sich im Glaubensbekenntnis gebildet und festigt diesen Zusammenschluss im Amen, und dies wurde mit der diesem Tatbestand angemessenen Überzeugungskraft an diesem Abend aufgeführt.

In den letzten beiden Sätzen entfernte sich Beethoven weit von der Tradition, und mir schien es, als hätte Thielemann diesen Eigenarten der Missa besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Der Blechbläsersatz, mit dem das Sanctus beginnt, lässt sich noch auf die Turmmusiken beziehen. Doch das Präludium zur musikalischen Begleitung der Wandlung ist ohne jedes Vorbild. Thielemann ließ diese Musik orgelhaft intonieren: „Präludium“ meint nicht Vorspiel (zum Benedictus), sondern präludieren bedeutet hier Improvisieren auf der Orgel. Dann erhob sich Daniel Stabrawa, der Erste Konzertmeister, und stellte sich neben das Solistenquartett, um wie überirdisch sein Solo vorzutragen. Der Lobgesang des Zacharias gehört zu den drei Cantica des Lukasevangeliums und ist von Beethoven entsprechend gesanglich komponiert, aber doch in der Hauptsache keiner menschlichen Stimme, sondern der Geige anvertraut worden. Thielemann und das Orchester ließen in Transparenz ein „Weihnachtskonzert“ als Siciliano erklingen.

Das Agnus Dei beginnt düster eingefärbt in h-Moll. Der Bassist Franz-Josef Selig hatte nun seinen großen Auftritt und wusste den zur Brotbrechung gesungenen Text mit so schlichter wie innbrünstiger Tongebung vorzutragen. Berühmt geworden ist die Missa solemnis nicht zuletzt ihrer Kriegspassagen mit Anklängen an Militärmusik wegen, die der „Bitte um inneren und äußeren Frieden“ vorgeschaltet sind. Was damalige Hörer als unerlaubte Theatralik in geistlicher Musik monierten, wusste der Operndirigent Thielemann als Bedrohung des Friedens seinen Hörern mitzugeben, bevor er ganz im Sinne Beethovens Frieden in der Musik herzustellen wusste. War die Aufführung der ersten vier Sätze sorgfältig, so wusste die des letztens Satzes zu bewegen.