„Hamburg“ hätte das Motto für die drei Konzerte lauten können, die die Berliner Philharmoniker zuletzt unter Leitung von Yannick Nézet-Séguin bestritten hatten. Auf dem Programm standen Carl Philipp Emanuel Bachs Kantate Heilig und Johannes Brahms' Deutsches Requiem. Während letzterer in Hamburg geboren wurde und auch in seiner späteren Zeit in Wien sehnsüchtig an seine Heimatstadt zurückdachte, prägte ersterer die musikalischen Belange der Hansestadt an der Elbe als städtischer Musikdirektor maßgeblich und erhielt aufgrund seiner 30-jährigen Amtszeit sogar den Beinamen „Hamburger Bach“. Dass der Bach-Sohn zu Lebzeiten berühmter war als sein Vater Johann Sebastian Bach, wird heute oft genug vergessen und entsprechend selten finden Werke wie die Heilig-Kantate Eingang in ein Konzertprogramm. Umso löblicher also, dass Nézet-Séguin diese nur rund zehnminütige Komposition Brahms' anrührendem Requiem an die Seite stellte.
Carl Philipp Emanuel Bach lässt sein Heilig mit einer Arietta für Altsolo beginnen, die den empfindsamen Stil par excellence repräsentiert. Als Solistin für diese kurze Introduktion konnte Wiebke Lehmkuhl mit ihrem wunderbar warmen Alt und klarer Diktion begeistern. Das anfängliche Solo geht unmittelbar in einen Part für Chor über, der mit einer immensen Besetzung aufsingt: So stehen sich hier zwei Chöre und zwei vollständige Orchester gegenüber und repräsentieren sowohl Engel als auch Menschen, die ihrem Gott lobsingen. Mit dem Einsatz des Chores zieht Bach in seiner Komposition alle Register: für seine Zeit regelrecht unerhörte Harmoniewechsel und klare Heterogenität zwischen den Chören prägen den Beginn des Chorteils, in dem die Engel buchstäblich misterioso und in lichter Höhe musizieren und die Menschen unmittelbar und mit Durchschlagskraft in einen Dialog miteinander treten. Der Rundfunkchor Berlin musizierte in wunderbar schlankem Klang und stellte sich zugleich mit herrlicher Strahlkraft vor. Leider waren die insgesamt sechs Trompeten und auch die insgesamt nicht eben klein besetzten übrigen Orchesterstimmen hier teils zu laut und überdeckten den feinen Chorklang. In der anschließenden Fuge blieb dieser Eindruck bestehen, obwohl alle Ausführenden hier mit Lust am fröhlichen Ausmusizieren zu Werke gingen. Wunderschön, wie die Sängerinnen und Sänger des Rundfunkchores das Te Deum als Cantus firmus in den Raum schmetterten und das doppelchörige Prinzip auskosteten.
Nézet-Séguins folgende Interpretation von Brahms' Deutschem Requiem sollte sich dann etwas zwiespältig gestalten. Er wählte fast durchgehend langsame Tempi, die gerade in der Reihung der ersten Sätze Durchhaltevermögen vom Publikum erforderten. Nach dem ohnehin innehaltenden ersten Satz beispielsweise schien der Trauermarsch zu Beginn des zweiten Satzes weiterhin regelrecht zu stagnieren und wollte nicht so recht von der Stelle kommen. Erst mit der Fuge stellte sich Bewegung und ein befreiend forscheres Tempo ein. Ein Eindruck, der sich auch in den übrigen Sätzen bestätigen sollte. Hatte man sich jedoch einmal auf die ungewohnten Tempi eingelassen, konnte man sich an den schneller und zupackender gestalteten Passagen freuen, die so ganz besonders hervorstachen. Insgesamt setzte der Kanadier am Pult auf eine klangschöne Lesart, für die ihm mit den Berliner Philharmonikern freilich das perfekte Ensemble zur Seite stand. Mit den hervorragenden Holzbläsern, allen voran Emmanuel Pahud an der Querflöte und Andreas Ottensamer an der Klarinette, entstand ein feinst abgestimmter und den Gesamtklang herrlich durchsichtig scheinender Eindruck, der den traumwandlerisch sicheren Streichern und dem satt aufspielenden Blech einiges an Finesse entgegen setzte.
Die erfreulich gut ausgelotete Dynamik ist dabei insbesondere in den leisen Passagen eindrucksvoll – die lauten Momente hingegen gelangen nicht ganz so fein abgestuft: Die Fugen sind in der Summe ein einziger lauter Abschnitt und hätten mehr Durchsichtigkeit vertragen können. Lobend zu erwähnen ist auch hier der hervorragende Rundfunkchor Berlin, der das Deutsche Requiem komplett auswendig vorzutragen wusste und nimmermüde jede noch so laute oder leise, jede noch so schnelle oder langsame Wendung in Nézet-Séguins Dirigat mitzugehen vermochte. Insbesondere in Bariton Markus Werba hatten die Choristen dabei einen guten Verbündeten: Hellwach und in erzählerischer Manier erfüllte er seine Rolle als Verkünder und schien den Chor im sechsten Satz („Denn wir haben hie keine bleibende Statt“) regelrecht zu immer neuen Reaktionen anzustacheln. Nicht ganz so überzeugend war Hanna-Elisabeth Müller, die im herrlichen „Ihr habt nun Traurigkeit“ eher kühl vom Trösten der Traurigen berichtet. Schade, da die junge Sopranistin einen ansonsten blitzsauberen Vortrag ablieferte.
Dennoch: Auch wenn bei der klanggewaltigen und den Zuhörenden teils regelrecht überrollenden Interpretation an mancher Stelle etwas mehr Blick für die kleine, feine Geste schön gewesen wäre, konnte sich das Publikum in der ausverkauften Philharmonie am Ende nicht der anrührenden Geste entziehen und quittierte das Konzert zunächst mit einem langen Moment der ergriffenen Stille.