Die Wendung “lebende Legende” sollte man vorsichtig benutzen, aber bei Ennio Morricone bewegt man sich damit auf sicherem Terrain. Selbst wenn man einem Jugendlichen, der diesen Namen nicht kennt, die ersten Takte des Themas von Zwei glorreiche Halunken vorsummt, kommt unweigerlich die Antwort: “Oh, Sie meinen ihn - natürlich kenne ich die Musik.” Auf Morricones Homepage sind 431 Werke für Film und Fernsehen gelistet, geschrieben in einer Zeitspanne von 45 Jahren von 1961 bis 2016. Als ich ihn auf eine seit Rossini oder Donizetti nicht mehr dagewesene produktive Schaffensperiode anspreche und frage, wie er diese Mengen an Werken geschafft hat, reagiert er verblüfft - “Ich schreibe seit 60 Jahren! Und in Jahren, in denen zwanzig Musikstücke erscheinen, mag es wie ein Wunder aussehen, aber in Wirklichkeit ist es keines. Ich habe jedes Jahr zehn oder elf Stücke geschrieben, aber tatsächlich sind die meisten Filme erst einige Zeit nachdem ich die Musik geschrieben hatte erschienen”.

Aber Morricone ist nicht nur ein unermüdlicher Komponist: das wirklich Bemerkenswerte an seiner Leistung ist die Vielfalt an Genres. Am besten bekannt ist er natürlich für den Stil seiner Musik in Western, denn seine Musik in Für eine Handvoll Dollar war anders als alles bisher Gehörte und bestimmte von da an die Musik für ein gesamtes Filmgenre. Aber er schrieb auch im großen Umfang Chorwerke, romantische Streicherthemen, einfache Lieder, coole Jazznummern, sogar afrikanische Klänge. Jedes dieser Genres beherrscht er in Perfektion: seine inoffizielle Fanpage chimai.com ist nach dem romantischen Thema Chi mai (aus dem ansonsten wenig beachteten Film Maddalena aus dem Jahr 1971) benannt, das es in Frankreich bis an die Spitze der Charts schaffte und in Großbritannien immerhin auf Platz 2. Er führt dieses Können auf die Beginne seiner Karriere zurück: “Wie Sie wissen habe ich als Arrangeur für Radio und Fernsehen begonnen, danach Musicals und Bühnenstücke, dann habe ich für eine Plattenfirma viele Popsongs arrangiert, und zu guter Letzt kam dann die Filmmusik. Es ist also die Menge an Erfahrungen, die mich dazu befähigt hat unterschiedliche Musik für unterschiedliche Genres zu schreiben – und auch die verschiedensten Erfahrungen nach jahrelanger Arbeit.”

Obwohl man außerhalb Italiens nicht viel davon hört, hat Morricone während seiner Karriere nie aufgehört Musik abseits des Filmes zu schreiben (oder wie er es nennt “musica assoluta”). Chormusik hat es ihm besonders angetan, und aufgrund seines ausgezeichneten Rufes in diesem Feld wurde er 2015 von den Jesuiten gebeten, ein Stück für die Feierlichkeit des 200-jährigen Jubiläums ihrer Ordensreform zu schreiben: die entstande Messe für Papst Franziskus ist theatralisch, durchaus unkonventionell und letztendlich durch und durch mitreißend.

Da Morricone heuer bereits 89 Jahre alt wird, ist es nicht weiters erstaunlich, dass er weniger komponiert als die Jahre zuvor. Jedoch ist einer der Gründe durchaus überraschend: es liegt an seinem vollen Tourneeplan. Die diesjährige Tournee, “60 Years of Music” beinhaltet neun Konzerte in ganz Europa, unter anderem auch, wie er in Interviews verraten hat, seinen letzten Auftritt in der Arena di Verona. Da ein riesiges Repertoire zur Auswahl steht, habe ich nachgefragt, wie er die Musik für die Konzerte auswählt: “Ich entscheide grundsätzlich nach zwei Kriterien. Auf der einen Seite versuche ich Werke auszusuchen, die ich besonders mag und auf die ich besonders stolz bin, die die Zuhörer aber nicht unbedingt gut kennen, da ich sie für wunderschön halte und will, dass sie das Publikum entdeckt. Auf der anderen Seite wähle ich die berühmtesten, erfolgreichsten und am öftesten geforderten Werke. Es ist also immer eine Kombination dieser zwei Ideen.”

Morricone ging auf der ganzen Welt auf Tour und schrieb in vielen Ländern Filmmusik für Regisseure. Ich frage, ob er einen unterschiedlichen Geschmack des Publikums in unterschiedlichen Ländern wahrnehme. Nicht im Geschmack, antwortet er, aber es gäbe einen großen Unterschied im Verhalten: “Normalerweise sehe ich keinen großen Unterschied in der Reaktion des Publikums. Aber besonders groß und verbreitet ist der Unterschied zwischen dem Europäischen und Asiatischen Publikum. Zunächst, zu Beginn des Konzertes, wirkt das Publikum in asiatischen Ländern - und besonders in Japan - sehr ruhig und es scheint, als ob sie meine Musik nicht begreifen oder was ich tue. Dann, nach und nach, laufen sie warm und am Ende des Konzertes gibt es Standing Ovations und großen Beifall. Und ich bin jedesmal überrascht, weil ich während des Konzerts das Gefühl nicht loswerde, dass sie es nicht genießen und nicht vollständig verstehen was ich mache.”

Eine der offensichtlichsten Eigenschaften von Filmmusik ist, nun ja, dass sie für den Film geschrieben wurde: oft werden spezielle Arrangements der Stücke für den Konzertsaal geschrieben (John Williams hat zum Beispiele einige Konzertsuiten von seinen berühmtesten Filmmusikwerken geschrieben). Morricone besteht allerdings darauf, dass man in seinen Konzerten tatsächlich das hört, was auch im Originalfilm gespielt wurde. “Nein, die Orchestrierung und das Arrangement sind exakt gleich wie das originale Werk, das für den Film komponiert wurde: ich nehme keinerlei Veränderungen vor. Die einzige Ausnahme ist der letzte Teil von Misson, weil das Originalthema im Film mit Oboe, Orchester und Chor besetzt ist: der Effekt, dass sich die Solostimme durchsetzt, wurde dadurch erreicht, dass zwei Oboisten gleichzeitig spielten und übereinander gelegt wurden. In einem Livekonzert wäre das nicht möglich und die Oboe würde man kaum hören, weil sie einen zu weichen Klang im Gegensatz zu einem ganzen Orchester und einem hundertköpfigen Chor hat, also haben wir uns entschlossen, die Stelle von sechs Hörnern spielen zu lassen. Überall sonst hören Sie die originale Instrumentation.”

Nichtsdestotrotz, Morricones Musik wurde von etlichen anderen Musikern weitgehend aufgegriffen, bearbeitet, neu gemischt und neu instrumentiert. Um Ihnen eine Idee davon zu geben, das ist einer seiner größten Erfolge: The Ecstasy of Gold aus Zwei glorreiche Halunken, zunächst erfolgreich im Film selbst wurde später zu einem Hit von Metallica und zuletzt – bizarr und wunderschön zugleich  – Carolina Eycks Version für Theremin und Gesang.

Von vielen als längst überfällig empfunden, erhielt Morricone 2016 endlich den Oscar für die beste Filmmusik für Quentin Tarantinos The Hateful Eight. Die Musik beweist seine anhaltende Gabe zu überraschen: ganz bewusst meidet er etwas Ähnliches zu seinen berühmten Western-Musiken aus den 1960er und 70er zu schreiben, und produzierte etwas viel klassischer Orchestriertes – nicht schrill, sondern karg und außerordentlich gut auf die Handlung abgestimmt und die Herrlichkeit der Landschaft Wyomings heraufbeschwörend. In seinem neunten Jahrzehnt, ein weiteres Meisterwerk.

 

Aus dem Englischen übertragen von Elisabeth Schwarz.