Auf einer Terrasse, nicht unweit vom Maison de la Radio, sitzt Nemanja Radulović gemütlich mit einer Tasse Kaffee vor sich. Er begrüßt uns mit einem freundlichen Lächeln und das Interview entwickelt sich schnell zu einem gelassenen Gespräch. Er spricht über die Verbindung, die er zu seinem Repertoire hat, über das Leben auf der Bühne, seine Ausbildung als Geiger, seine zukünftigen Projekte und vieles mehr, wobei er jedes Thema mit einer ehrlich gemeinten Empfindsamkeit angeht. Es ist schwer zu glauben, dass wir uns mit einem Star des prestigeträchtigen Labels Deutsche Grammophon unterhalten, ein Virtuose mit einem unglaublich vollen Terminplan, der nur zwei Tage zuvor von einer Asien-Tournee zurückgekommen war und sich momentan auf Interviews und Meetings für sein neues Album, das am 9. November erscheint, vorbereitet.

Nemanja Radulovic
© Tristan Labouret

Sie haben gerade Ihre Tour mit Laure Favre-Kahn beendet. Was sind Ihre Eindrücke, Ihre Erfahrungen? Sie kommen ja fast direkt vom Flugzeug.

Es waren wirklich zwei wundervolle Wochen. Eine Tournee ist immer eine sehr bewegende Erfahrung, besonders in Asien, in Japan. Das Publikum ist immer sehr respektvoll. An einem Abend, nach den letzten Noten von Ernest Chaussons Poème gab es eine meditative Stille, die beinahe eine Minute lang anhielt. Niemand im Publikum applaudierte, unsere Gedanken hingen in der Musik fest, hoch in den Wolken… Es war ein sehr bewegender Moment.

Das Tourneeprogramm, das französischer Musik gewidmet war, enthielt auch Tzigane von Ravel, das sie zuvor noch nie aufgenommen hatten…

Ich würde es gern eines Tages aufnehmen… Jedes Mal, zu Beginn des Stückes, denke ich an einen Zigeuner, der kein einfaches Leben hat, der sich um seine Familie kümmern und unter unvorstellbaren Bedingungen leben muss. Er hängt sich seinen Rucksack um und beginnt seine Reise. Das Stück hat einen gewissen Humor, den man nur unter Zigeunern findet; Dinge, die unglaublich erscheinen, aber eigentlich der Wahrheit entsprechen.

Nemanja Radulovic
© Marie Staggat | Deutsche Grammophon

Wenn Sie spielen, entstehen Geschichten in ihrem Kopf… haben Sie Ihr neues Album deshalb Baïka – „Geschichte” im Serbischen – genannt?

Es stimmt, dass ich immer versuche, eine Geschichte in einem Stück zu finden, es ist nicht nur eine Reihe an Noten. Ich stelle mir viele verschiedene Dinge vor, inspiriert davon, was ich vom Orchester höre oder der Atmosphäre im Konzertsaal… [ein Motorrad heult nur wenige Meter von uns entfernt auf und er reagiert sofort darauf] sogar das inspiriert mich! In Chatschaturjans Konzert, im dritten Satz, gibt es einige Seiten wo die Geige kein einziges Mal aufhört zu spielen. Man muss unglaublich fokussiert sein, von Anfang bis Ende, man muss genau wissen, wann man langsamer wird und dann wieder Tempo aufnimmt… es ist wie ein Formel 1-Rennen! Wenn deine Gedanken abschweifen, wenn auch nur für eine Millisekunde, gerätst du aus der Bahn und das kann gefährlich werden.

In Baïka gibt es Geschichten, die bereits vorhanden sind, zum Beispiel in Scheherazade von Rimski-Korsakow. Aber Chatschaturjans Konzert und Trio regen viele Bilder und die Fantasie an. Im zweiten Satz findet die Filmmusik ihren Ursprung. Chatschaturjan zieht traditionelle armenische Musik heran, die viel Charakter besitzt. Bei diesem Album haben wir einen Fuß im realen Osten und den anderen im imaginären Osten.

 

Ihre Version von Scheherazade wurde von Aleksandar Sedlar arrangiert. Diese Kombination aus Repertoire-Konzerten und personalisierten Arrangements lässt sich in allen drei Alben finden. Kann man sagen, dass Sie Ihr perfektes Rezept gefunden haben?

Jetzt wo Sie es erwähnen, es stimmt, dass es einige Arrangements gibt! Ich will mich nicht auf Originalpartituren beschränken. Wenn ich ein Stück mag und denke, dass ein neues Arrangement ihm neues Leben einhaucht, dann will ich es immer versuchen! Wenn meine ersten Anläufe nicht überzeugend sind, hören wir auf, in diese Richtung zu arbeiten. Aber wenn ich mich auf einen Arrangeur wie Aleksandar Sedlar verlassen kann, ist das fantastisch! Er ist neuen Ideen gegenüber unglaublich aufgeschlossen. Her lebt sehr im Hier und Jetzt, aber in seiner Musik lassen sich klassische und romantische Eigenschaften finden, Echos von Strawinsky und Prokofjew… Und er fügt eine persönliche Lyrik hinzu, persönliche Harmonien und Begleitungen mit einem Hauch von Humor. Ich liebe es!

Was sind Ihre nächsten Projekte? Wenn ich Ihre bisherigen Alben ansehe, werden Sie mit Bartók, Schostakowitsch, Prokofjew,... weitermachen?

Warum nicht? Aber nach Baïka warte ich vermutlich. Ich will eine Pause vom Aufnahmestudio einlegen, weil ich bereits so viel gemacht habe! Als nächstes widme ich mich vermutlich der Sololiteratur. Eine Zeit lang habe ich viele Stücke für Violine solo gespielt und ich muss sagen, in letzter Zeit vermisse ich es.

Gibt es Werke, die Sie besonders reizen, zu spielen?

Nemanja Radulovic
© Charlotte Abramow | Deutsche Grammophon

Ich habe Ysaÿes Musik wirklich gern, sie ist so ausdrucksstark. Natürlich auch Bartók und ich verbringe jeden Tag Zeit mit Bachs Musik… es wäre großartig, diese drei Komponisten zu verbinden. Ich versuche, Verbindungen zwischen Dingen herzustellen und ich habe festgestellt, dass ich dasselbe in meinem Privatleben mache: Ich bemühe mich, den Kontakt zwischen Leuten herzustellen, alle zu versammeln! Vielleicht liegt das an meiner persönlichen Geschichte. Ich komme aus einem Land mit einer sehr mannigfaltigen und reichen Kultur, mit orientalischen und österreichisch-ungarischen Einflüssen, in einer Region zwischen dem Westen und Russland. Als ich mit meiner Kultur in Paris ankam, musste ich neue Verbindungen herstellen und erkunden…

Gehen wir einen Schritt zurück, wie sehen Sie Ihre Ausbildungsjahre in Serbien und Frankreich?

Zunächst einmal hatte ich sehr viel Glück, mit Dejan Mihailovic in Serbien zu arbeiten. Er kommt von der Russischen Schule, ein Schüler von David Oistrakh. Er hatte eine sehr intellektuelle Seite, aber er war so aufgeschlossen, dass sich jeder seiner Studenten unterschiedlich entwickelte. Er half uns und begleitete unsere eigene Kreativität, er hat uns nichts aufgezwungen.

Dann hatte ich zwei großartige Jahre mit Patrice Fontanarosa am Conservatoire de Paris. Er hatte eine einzigartige Großzügigkeit, sein Unterricht konnte bis zu dreieinhalb Stunden dauern, mit der gesamten Klasse. Auch er hat uns nie den gleichen Fingersatz oder die gleiche Bogenführung aufgezwungen… er zeigte uns seine Vision, aber vor allem half er uns, unsere eigene Vision der Musik zu entdecken.

Ich hatte also die Freiheit, selbst zu wählen, was ich spielen wollte. Patrice glaubte an etwas, was meiner Meinung nach sehr wichtig ist: wenn man etwas spielen möchte und darüber nachdenkt, ob man das Stück spielen kann, hat dein Wunsch es zu spielen Einfluss auf deine technischen Fähigkeiten und deine künstlerische Reife… Er war es, der mir grünes Licht gab, mit 14 am Beethoven-Konzert zu arbeiten; ich hatte immer gehört, dass ich zu jung war, um Beethoven zu spielen! Als ich nach den Balkankonflikten in Frankreich ankam, erkannte ich eine gewisse Nostalgie im Stück, eine Melancholie, die mich tief bewegte. Ich verbinde das Werk noch immer mit dieser Phase meines Lebens. Patrice ermutigte mich, am Werk für verschiedene Wettbewerbe zu arbeiten, obwohl es kein Werk ist, das für gewöhnlich dafür ausgewählt wird, um als Student zu glänzen.

Wie sieht Ihre momentane Arbeitsweise aus?

Das hängt ganz vom Tag ab. Ich genieße es immer, etwas Bach und Mozart zu spielen. Ich wärme mich mit diesem Repertoire auf, mit Stücken, die ich nicht unbedingt in meinen nächsten Konzerten spiele. Ich versuche, täglich zwei Stunden für Sport zu haben, was nicht immer leicht ist, wenn man reist… und manchmal lege ich eine Pause ein. Ich bin erst vor kurzem auf Urlaub gefahren, zwanzig Tage ohne meinen Instrument… und es hat mir und meiner Geige gut getan!

 

Sie verwenden also immer Repertoire, wenn Sie üben, oder spielen sie auch Etüden und rein technische Übungen?

Nein, weil meine Lehrer niemals darauf bestanden haben. Mein erster Lehrer gab all seinen Studenten zwei Etüden, eine von Bériot und die andere von Campagnoli, die wir noch immer alle auswendig spielen können [er lacht]! Aber das ist alles, der wichtige Teil unserer Ausbildung war das Repertoire und und er gab uns Stücke, die nicht unserem Level entsprachen, manchmal waren sie wesentlich schwieriger. Ich erinnere mich, als ich elf war arbeitete ich an Die letzte Rose von Ernst… Ich bräuchte etwas Zeit, um es heute spielen zu können, aber die entscheidenden Dinge blieben dank ihm hängen.

Wir wissen, dass Sie immer eine gute Beziehung zu den Musikern, denen Sie begegnen und mit denen Sie spielen, aufbauen… wie sieht Ihre Beziehung zu Ihrem Instrument aus?

Ich hatte viele Jahre eine Vuillaume, dich ich vergötterte… und dann, ganz plötzlich, fast von einem Tag auf den anderen beschloss ich, sie nicht mehr zu spielen; etwas in ihrem Klang passte nicht mehr zu meinem Spiel und ich konnte es physisch spüren. Im Grunde fand ich es schwierig zu spielen. Ich war überrascht, dass ich mich in meine neue Geige verliebt habe; ein französisches Instrument, unbekannter Hersteller, aus dem 19. Jahrhundert. Auch das passierte ganz plötzlich. Im Moment passt sie perfekt zu mir, und ich bin sehr glücklich damit! Ihre Farben erinnern mich an eine Bratsche, was mir gefällt; der Ton kann weich sein, aber zugleich auch satt.

Was andere Musiker betrifft, mit denen ich spiele, Loyalität spielt eine wichtige Rolle für mich. Ich finde es großartig, dass die Musiker von Double Sens [ein Streicherensemble, das er vor beinahe zehn Jahren gegründet hat: ed] noch immer dieselben wie beim Start des Projekts sind. Les Trilles du diable [ein Streichquintett, das er regelmäßig sieht: ed], Laure Favre-Kahn, Susan Manoff, Marielle Nordmann, sind auch Menschen, die ein Teil meines Lebens sind, ein Teil von mir. Ich schätze mich glücklich, dass ich diese außergewöhnlichen Menschen treffen durfte. Und was Aleksandar Sedlar anbelangt, wir sind seit Jahren gute Freunde – wir können einander alles erzählen. Über Musik, aber auch das Leben generell. Ich denke, je mehr Zeit vergeht, desto mehr kann man eine Beziehung vertiefen und wunderschöne Dinge entdecken.

 

Ins Deutsche übertragen von Elisabeth Schwarz