Eine Lautsprecherdurchsage „Lady Macbeth“ sorgt für kurzen Alarm in Anna Netrebkos Augen... aber es ist ein Probenaufruf für Schostakowitschs Lady Macbeth von Mzensk und nicht für Verdis Lady, die sie momentan am Royal Opera House in London spielt. Netrebko ist hier mit ihrem Ehemann, Yusif Eyvazov, der die Tenorrolle des Macduff singt, und sie genießen die Hauptstadt eindeutig in vollen Zügen. Netrebko war versucht, die Kronjuwelen bei einem Besuch des Towers in London zu probieren. Sie könnte es sicherlich rechtfertigen, hatte sie doch Anne Boleyn in Donizettis Oper über die Tudor-Geschichte gespielt. Die Erkundungen des Paares sind in den sozialen Medien weitgehend selbstaufgezeichnet – „Es ist mehr Anna als ich. Ich bin fauler!“, witzelt Yusif – mit einem herrlichen Foto von Anna mit Deerstalker-Mütze und Pfeife im Sherlock Holmes Museum, das auf ihrem Instagram-Account tausende Likes einfährt. „Mein Leben ist großartig wegen meiner vielen Reisen, also teile ich einfach was ich sehe.“

Elementar, meine liebe Anna!
© Anna Netrebko

Netrebko gab vor 18 Jahren ihr Debüt in London. Sie kichert, als ich ihr das an Audrey Hepburn erinnernde Foto von ihr als Natascha in Krieg und Frieden zeige, das den Umschlag der Kirov Opera bei ihrem Gastspiel in London schmückte. „Mein Gott“, seufzt sie, „ich liebe diese Rolle, eine meiner Lieblingsrollen. Die Inszenierung war ziemlich verrückt – 300 Leute auf einer sich drehenden Bühne!“ Für Eyvazov, ihr Ehemann seit zwei Jahren, ist Macduff sein Royal Opera-Debüt und, nachdem er die ersten Rezensionen gelesen hat, ist er begeistert. Er weiß sehr wohl um die Wichtigkeit. „Es ist ein sehr wichtiger Schritt in meiner Karriere“, erkennt er an. „Die Royal Opera ist ein großer Name in deinem Lebenslauf. Bei meiner ersten Bühnenprobe wirkte sie so klein, verglichen mit dem Bolschoi oder der Metropolitan, aber es ist eine riesige Ehre, hier zu sein.“ Es ist das erste Mal, dass Eyvazov mit Sir Antonio Pappano arbeitet und er ist voll des Lobes für den Musikdirektor des Hauses. „Er strahlt eine unglaubliche Menschlichkeit aus – man findet das nicht oft bei Dirigenten. Seine Musikalität und seine Liebe zu Sängern machen mich wirklich glücklich.“

Yusif Eyvazov (Macduff)
© ROH | Bill Cooper

Zu Beginn ihrer Karriere sang Netrebko leichtere Soubrette-Rollen – Adina, Norina, Zerlina – bevor ihre Stimme abdunkelte und größer wurde, was es ihr erlaubte, sich an schwereres Repertoire heranzuwagen und zu ihren Erfolgen als Lady Macbeth, Leonora, Aida und Manon Lescaut führte. Ich frage mich, wie sehr sie diese „-ina“-Rollen wirklich gereizt haben, aber sie bleibt positiv. „Sie waren wunderbar für meine Stimme. Wenn du jung bist, musst du viele dieser Rollen singen, die viel Schauspielerei verlangen, viel Bewegung, aber nach ein paar Jahren fühlte ich, dass es an der Zeit war, etwas zu verändern und glücklicherweise hat es meine Stimme zugelassen. Es war eine große Entscheidung, in schwereres Repertoire einzusteigen. Wissen Sie, ich glaube ich könnte Adina noch immer mit Leichtigkeit singen. Ich kann meine Stimme zurücknehmen, aber ich sehe einfach keinen Grund warum ich sie noch immer singen wollte.“ Violetta ist eine andere Rolle, von der sie sich verabschiedet hat. „Ich habe keine weiteren Violettas. Wofür? Ich sang eine letztes Jahr an der Scala, weil ich eine große, altmodische Inszenierung machen wollte.“ Sie räumt ein, dass sie sie noch immer singen kann, aber fragt mich „Violetta mit 50? Nein!“ Sie ist jünger, aber ich verstehe, was sie meint.

Rückblickend gesteht sich Netrebko ein: „Ich weiß, dass die Rollen, die ich momentan singe, meine Gesangskarriere verkürzen. Sie sind fordernd und zerstören deinen Körper, deine Seele, deine Stimme, alles. Jede Vorstellung verlangt dir soviel ab, die Erholungsphase ist daher kürzer, aber diese Rollen sind es wert, denke ich!“

Anna Netrebko und Yusif Eyvazov
© Kirk Edwards

Nach Jahren, in denen sie Massenets neckische Manon spielte, wagte sie sich 2014 an Puccinis Version heran, eine Rolle, die sie als „Killer“ bezeichnet. Es war während der Proben in Rom, als sie Eyvazov kennenlernte. Was war sein erster Eindruck von Netrebko? „Dass sie eine verrückte Primadonna ist! Wie kann sie im Januar Adina singen und dann nach Rom kommen, um Manon Lescaut zu lernen?!“ „Ich kannte die Rolle nicht!“, unterbricht Netrebko lachend. „Aber ich war sehr von ihrer Professionalität beeindruckt“, führt er fort. „Es war das erste Mal, dass ich mit einem großen Star zusammengearbeitet habe... selbst wenn Maestro Muti in diesem Fall der größere Star sein wollte. Am Ende hat Anna von allen die Show gestohlen, sogar von ihm!“

In diesem Raum gibt es eindeutig wenig Liebe für Riccardo Muti, der sie auch beide – obwohl in unterschiedlichen Besetzungen – bei den letztjährigen Salzburger Festspielen in Aida dirigierte. Aber seine Frau, Cristina, hatte anerkannter Weise einen großen Einfluss auf Eyvazovs Karriere. „Sie ist eine reizende Person. Sie verhalf mir zu meinem ersten großen Durchbruch als ich Otello in Ravenna sang.“

Auf der anderen Seite fühlte sich Netrebko sofort zu Eyvazov hingezogen, auch wenn es nicht „Liebe auf den ersten Blick“ war, beide sind aus diesem Alter heraus. „Ich verstand seine Stimme sofort. Es war klar, was sie sein könnte. Er brauchte mehr Erfahrung im Singen und auf der Bühne, aber er hatte all die richtigen hohen Noten, und seine Stimme hatte bereits ein sehr spezielles Timbre. Er hat in den letzten Jahren sehr hart gearbeitet und unglaubliche Fortschritte gemacht.“

Željko Lučić (Macbeth) und Anna Netrebko (Lady Macbeth)
© ROH | Bill Cooper

Ich habe Netrebkos Lady Macbeth erstmals 2014 an der Metropolitan Opera gesehen, eine herausragende, energiegeladene Darstellung, die ein neues hingebungsvolles Brustregister zum Vorschein brachte. Ihre Leonora (Trovatore) und Tatyana in Paris waren gleichermaßen sinnlich und nun ist London an der Reihe, „Trebs“ in voller Fahrt zu erleben. „Ich wurde für diese Rolle geboren!“, lacht sie. „Sie verlangt viel Energie und Stamina, aber irgendwie fühle ich mich wohl dabei. Man muss nur stark sein.“

Wie schon an der Met wird sie in Covent Garden von Željko Lučić als Macbeth begleitet, „einer von wenigen Baritonen, die ihn tatsächlich singen können!“. Eyvazov singt Macduff, eine kleine Rolle, aber der aus Aserbaidschan stammende Tenor weist darauf hin, dass diese von vielen jungen Tenören angenommen wird. Er gibt zu, dass er eher ein Verismo- als ein Verdi-Tenor ist – er trotzte den Mailänder loggionisti, um die Saison an der Scala in der Titelrolle von Andrea Chénier zu eröffnen, was an sich eine beachtliche Leistung ist – aber er hat Radamès im Visier. Er nimmt auch Don Alvaro in La forza del destino nächste Saison am Royal Opera House in Angriff. „Ich bin jetzt 40, das perfekte Alter, um alles anzunehmen was ich will. Ich bin mir sicher, dass meine Stimme nicht zu 100% so funktioniert, wie ich es will, aber ich werde in den kommenden Jahren neue Dinge entdecken.“

Anna Netrebko (Maddalena) und Yusif Eyvazov (Andrea Chénier)
© Brescia/Amisano | Teatro alla Scala

In dieser Forza gibt Netrebko ihr Debüt als Leonora, eine Rolle, die sie, wie sie offen eingesteht, nicht in Erwägung gezogen hätte, wäre es nicht für Pappanos Überredungskünste gewesen. Wie geht sie an neue Rollen heran? „Ich bin ganz für die alte Gesangsschule“, erklärt sie ernst. „Es geht um gute Atemkontrolle bei jeder einzelnen Note.“ Sie hört Aufnahmen an: Mirella Freni, Maria Callas und besonders Renata Tebaldi: „ihre korrekte Art zu phrasieren und zu singen hat mir bei Aida wirklich geholfen. Ein falscher Schritt und du bist draußen!“ Sie achtet auf die Phrasierung, auf Musikalität. „Ich achte darauf, wie Dirigenten die Musik unterschiedlich angehen. Es ist sehr wichtig, von den größten zu lernen. Mit dem Klavier zu lernen ist keine Sache. Nur wenn du sie etliche Male auf der Bühne mit dem Orchester singst, kommt die Rolle zu dir und du verstehst sie.“

Es wäre faszinierend, das Paar im russischen Repertoire zu hören. Eyvazov hat gerade seine erste Pique Dame am Bolshoi gesungen – „meine neue Lieblingsrolle“ – und ihre Gala in der Royal Albert Hall am 23. Mai beinhaltet Hermans Arie. Netrebko singt Marfas Arie aus Rimski-Korsakows Die Zarenbraut, ein wunderschönes Solo, aber ich frage mich, ob sie jemals Lisa in Pique Dame singen wird. „Es ist eine etwas schwere Rolle, auf der spinto Seite“, beschwert sie sich, aber sie lässt durchblicken, dass sie mit der richtigen Inszenierung und einem guten Dirigenten überredet werden könnte. Ich locke sie mit Geschichten von Stefan Herheims Produktion, die nächste Saison nach Covent Garden kommt. Aber werden wir jemals ihre Tatyana in London sehen? Sie lehnt Kasper Holtens Onegin-Inszenierung am Royal Opera House sofort ab. „Ich würde sie hier singen, aber ihr habt eine schlechte Inszenierung, also komme ich nicht! Tatyana? Jederzeit. In fünf, sieben Jahren kann ich sie noch immer singen, also falls ihr eure Inszenierung ändert, werde ich mit Freuden hier sein!“

Peter Mattei (Onegin) und Anna Netrebko (Tatyana)
© Guergana Damianova | Opéra National de Paris

Die Royal Albert Hall-Gala sieht außerdem Duette von Andrea Chénier, Otello und Tosca vor. Desdemona ist jedoch eine Rolle, die Netrebko nicht interessiert. „Sie ist wunderschön, aber das bin nicht ich“, vertraut sie mir an, bevor Eyvazov unterbricht „Sie würden keinen Tenor finden, der sie umbringen möchte!“, was ihm einen zärtlichen Kuss auf die Schulter einbringt. Netrebko rümpft die Nase, wenn ich Tosca erwähne, eine weitere Rolle, von der sie behauptet hatte, sie niemals zu singen, aber nach Macbeth fliegt sie nach New York, um ihr Rollendebüt in Sir David McVicars Inszenierung zu geben. Was hat sich also geändert? „Weil mich jeder gebeten hat, sie zu singen!“, seufzt sie. „Ich werde lernen, sie zu lieben. Es gibt nur wenige Möglichkeiten, Tosca nicht lächerlich darzustellen. Alles was ich in Inszenierungen sehe, enttäuscht mich. Aber die Musik ist unglaublich... es ist wie ein Film.“

Das Paar hat schon einige Galakonzerte zusammen gesungen („unsere Stimmen passen in Duetten gut zusammen“), aber obwohl sie oft gleichzeitig am selben Haus singen, oder sogar in derselben Produktion – Tosca an der Staatsoper Berlin, zum Beispiel – singen sie nicht immer in derselben Vorstellung. „Wir können nicht immer gemeinsam singen, das würde langweilig werden!“, Netrebko bricht in schallendes Gelächter aus, bevor Eyvazov erklärt, dass sie Angebote von Intendanten entweder akzeptieren – oder ablehnen – anstatt nach gemeinsamen Auftritten zu angeln.

Anna Netrebko (Tosca)
© Ken Howard | Met Opera

Das Gespräch über neue Rollen bringt mich dazu, meine übliche Frage an Tenöre zu stellen: Falls Sie für einen Tag als Bariton aufwachen, welche Rolle würden sie singen? Eyvazov antwortet ohne Pause. „Grigory Gryaznoy in Die Zarenbraut. Es ist wunderbare Musik für einen Bariton.“

Netrebko fällt ihm ins Wort. „Ich würde es lieben, Scarpia zu singen!“, verkündet sie, ein teuflisches Funkeln in ihren Augen. Vielleicht hat sie am Ende doch noch ihre Motivation für Tosca gefunden.

Ins Deutsche übertragen von Elisabeth Schwarz.