Durchaus glitzernd, und wie unvermittelt, spielte Igor Levit beim Musikfest Berlin den fast improvisatorischen Beginn der E-Dur-Sonate und wechselte dann wie im Filmschnitt in ein instrumentales Rezitativ. Der zweite Satz wurde zur kontrapunktisch rasenden Mollvariante des ersten. Erst in der Variationenfolge des Finales liefen die bislang disparaten Fäden zusammen. Indem Levits linke Hand den Bass des Themas deutlich aufsteigen ließ, nachdem die vorigen Sätze über fallende Tonleitern komponiert waren, machte er Goethes Polarität und Steigerung als Prinzip der Sonate erfahrbar. Die Variationen II und III reagierten auf die beiden vorangegangen Sätze, bevor die Triller der letzten das Thema unterstützten, in lichtvolle Transzendenz aufzusteigen. So gespielt wurde die Sonate zur sinnlichen Erfahrung einer Aufhebung im Sinne ihrer dreifachen Bedeutung bei Hegel: Negieren, Aufbewahren und Emporheben! Als Levit das Thema dann am Ende zu wiederholen hatte, ließ er offen, ob dies als Erinnerung oder als Ankunft gehört werden sollte.
Nicht anders als die E-Dur-Sonate richtete Beethoven auch die in As-Dur stehende auf das Finale hin aus, worin die Einheit des Verschiedenartigen auf ganz andere Weise erreicht wurde. Im Kopfsatz waren, wie in Op.109, noch keine fest umrissenen Gestalten gestaltet. Im zweiten Satz „erhöhte“ Beethoven das Material des ersten nicht kontrapunktisch wie im Vorgänger, sondern senkte es in zwei Volksliedzitaten in „niedere Stilebenen“ herab.
Diese beiden ersten Sätze bereiteten das aus Arioso und Fuge zusammengesetzte Finale vor. Im Klagegesang trat eine instrumentale Stimme hervor, die auf dem Höhepunkt isolierter Verzweiflung einen Einzelton bebend vibrieren ließ. Dann setzte die Fuge ein, die unter Levits Händen wie ein Bach sprudelte. Rettung fand der Pianist im übermäßigen Quintsextakkord, den er hellhörig als Zeichen der Wende inszenierte. Zwar drohten in der Wiederaufnahme des „Klagenden Gesanges“ die Kräfte zu ermatten, doch die Strahlkraft des übermäßigen Quintsextakkordes setzte sich letztlich durch. Neunmal hämmerte Levit den G-Dur-Dreiklang in die Tasten und das Fugenthema trat, in die neue Tonart versetzt, dreimal in Umkehrung auf. Verkleinerungen dieses Themas im Original wurden zu farbenprächtigen Begleitfiguren. Wie in Op.109 fielen Negation und Aufhebung zusammen, wenn das vergrößerte Thema im Bass das Ziel der Sonate ankündigte: die Emporhebung des nun in Grundtonart und als Grundgestalt erklingenden, schließlich zu einem Hymnus gesteigerten Themas. In den Aufwärts-Abwärts-Arpeggien des Schlusses bejubelte der Pianist euphorisch die geglückte Synthese.
In seiner letzter Klaviersonate, Op.11, verdichtete Beethoven das Prinzip von „Polarität und Steigerung“ auf zwei Sätze. Levit machte mit den punktierten Rhythmus der Introduktion Großes geltend, meißelte dann das Thema hartkantig zu dem einer Fuge als das es sich aber erst in der Durchführung und dann auch nur in einem kurzen Fugato ausleben durfte. In dieser Sonate sind nicht Fuge und Sonate miteinander zu versöhnen; Beethoven nahm sich etwas anderes in ihr vor. In den letzten Takten des Kopfsatzes öffnete Levit mit feinstem Gespür den Satzschluss nach C-Dur, der Tonart des zweiten Satzes, in dem steigernd zur Aufhebung gebracht wurde, was kompositorische Arbeit allein nicht zu Wege zu bringen könnte. Levit ließ die Figuralvariationen swingen, klammerte sich aber nicht daran, dass hier der Jazz geboren worden wäre, sondern ließ werkimmanent die Punktierungen des Themas triumphal anwachsen. Dann wurde es dunkel und still im Saal. Levit hatte das Thema in feinste Fiorituren zu kristallisieren, musste an ihm aber nicht mehr arbeiten, sondern durfte sich der letzten Geste anvertrauen. In die letzten Takte legte Beethoven, indem er der ersten Themenhälfte eine kleine Tonfolge hinzufügte, jenen Ausdruck dankbarer Versöhnung, für den Thomas Mann die schönsten Worte fand – und doch zugestanden hätte, dass es allein einem solchen Meister des Pianissimo wie Levit vergönnt ist, diese tönende Botschaft recht zum Klingen zu bringen.