Vier Tage nach er Eröffnung der Elbphilharmonie als Bau der Superlative in Hamburg gastierte dort das Chicago Symphony Orchestra unter Riccardo Muti im Rahmen des noch andauernden Eröffnungsfestivals. Da die Amerikaner nicht oft nach Europa reisen, erwartete ich mit Spannung, diesen neuen Konzertsaal mit einem Amerikanischen Orchester zu erleben, und die Werkauswahl versprach viel Bewegung und eine Überraschung.

Nachdem ich mich durch meine ganz persönliche Elbphilharmonie-Inauguration schreitend in den großen Saal vorgearbeitet hatte, war das Orchester bereits übend auf der Bühne anzutreffen. Durch baulich und personaltechnisch perfekte Organisation hatte sich der ausverkaufte Saal ohne merkliche Menschenansammlungen schnell komplett gefüllt. Nach  den Auftritten des ersten Konzertmeisters Robert Chen und des Dirigenten ging es zügig los mit Alfredo CatalaniContemplazione. Dieses spätromantische, ungefähr neun Minuten lange, eher schlicht wirkende Orchesterstück wird dominiert von weichen Streicherklängen, denen voran eine sangliche Melodielinie steht. Vom Orchester technisch makellos gespielt standen die tragenden Streicher immer perfekt in den einfachen, oft zweistimmig angelegten Melodien. So ganz mochte das Werk jedoch nicht in den Kontext des restlichen Programmes passen, und man meinte, auch dem Orchester fast etwas Ratlosigkeit darüber anzumerken, wie man es im Kontext dieses Abends treffend interpretieren könnte.

Danach folgte der Vortrag der Tondichtung Don Juan von Richard Strauss. Mit hoher Energie und Akkuratesse begannen die Musiker das Heldenepos, auch wenn einige Abschläge vor dem ruhigen Teil mit noch etwas mehr Witz gespielt hätten werden können. Konzertmeister Chen intonierte sein Solo mit weichem Ton und deutlichem Vibrato, was Riccardo Muti mit seiner aufrechten, ja fast staatsmännischen Art anleitete. Immer wieder fielen die Celli angenehm auf, die mit viel Konzentration gerade die leisen Passagen formten.

In den lauten Tuttipassagen waren es die Hörner, die rückgratbildend als Bindeelement zwischen den verschiedenen Stimmen agierten und später in markanten stellen sehr gut mit den Pauken und den Bässen verbunden waren. Klarinette und Oboe gingen in ihren abwechselnden Soli gut aufeinander ein und zeigten mit bewusst geführter Dynamik und genau modellierten Tonansätzen ein spannendes Wechselspiel. Vor allem die Oboe fügte sich stark in den Raumklang ein und stach dadurch angenehm aus den anderen Instrumenten hervor. Gleiches galt für die Harfe, die immer wieder hervortrat und gerade die leisen Stellen ausmalte. Die Körpersprache der Musiker vermittelte zeitweise den Eindruck, als würde das Orchester nicht alle Reserven für den Vortrag verwenden, doch bot das klangliche Ergebnis alle Facetten der Agogik und Dynamik. Gerade das präzise, rhythmische Zusammenspiel von Schlagwerk, Bässen, Posaunen und Hörnern sorgte für donnernde, imposante Abschnitte.

Die Spielfreude und -intensität steigerte sich nach der Pause mit der Vierten Symphonie von Tschaikowsky. Gerade im ersten Satz genossen die Musiker oft bewusst das Zusammenspiel; immer wieder verbündeten sich Instrumente oder ganze Instrumentengruppen, um bestimmte Themen bewusst zu gestalten oder Entwicklungen vordergründiger voranzutreiben – so zum Beispiel Posaunen und Hörner, die ihre den ersten Satz gerade im frühen Teil prägenden Elemente zusammen deutlich herausstellten, oder Hörner und Celli, die gemeinsam mit bewusst gedeckt gehaltenen Timbres in düsteren Klangfarben schwelgten, um dann von ausladend gestrichenen Violinen und Violen abgelöst zu werden. Dazu gesellten sich in lauteren Passagen wieder die Posaunen, um die mit markantem Druck gestrichenen Streicher weiter zu stützen.

Dieser Fokus auf das Zusammenspiel kulminierte im dritten Satz, dem Pizzicatosatz. Mit verblüffender Genauigkeit führten alle Streicher gemeinsam die schnellen Pizzicati über lange Strecken aus. So verschmolzen die Gruppen und spielten die vielen Crescendi und Decrescendi als Einheit. Ein äußerst schwer herzustellendes, dafür aber frappierend schönes Klangerlebnis! Riccardo Muti gab jetzt nur noch wenige technische Anweisungen, feierte eher in pointierten Gesten das musikalische Erlebnis.

Die Musiker spielten nun in vollem Lauf, übernahmen und steigerten sich weiter im letzten Satz der Symphonie. Wie erwartet fiel der Anfang durch viel Energie auf und das Orchester spielte direkt weiter durch die schnellen Anfangssequenzen bis zu der festlichen Tanzszene, die so wichtig ist, aber oft auch verhalten angesetzt wird. Nicht so an diesem Abend. Mit Freude polterte das Orchester durch dieses Bild eines ausgelassenen Tanzes, ungehobelt und aller Kontrolle und Präzision zum Trotz. Es hielt mich kaum auf dem Sitz, so gepackt wurde ich von diesem Mut zum Risiko! Mein Moment des Abends und der Aufhänger für den Rest und das Ende der Symphonie.

Mit der Ouvertüre zu Nabucco von Giuseppe Verdi beschlossen Riccardo Muti und das Orchester einen denkwürdigen Konzertabend an diesem beeindruckenden, neuen Konzertort.

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