Was für ein Auftakt! Üblicherweise beginnen Choreographien mit dem Auftritt von Tänzern, beim neuen Stück von Vittoria Girelli – Teil des Tanzabends Creations X - XII des Stuttgarter Balletts – ist es eher eine Art Rückzug. Ein Tänzer rutscht rückwärts von einer die Bühne links begrenzenden hellen Wand zurück in die Bühnenmitte, vorsichtig, als traue er sich nicht, als habe er ein abschreckendes Erlebnis gehabt. Bewegt er sich zurück ins Leben oder mitten ins Nichts – Fragen, die auch bei den übrigen Tänzern des Stücks aufkommen können. Girelli bewegt sich mit ihrer neuen Choreographie am Rand von Sein und Nicht-Sein. In Esisto heißt die Arbeit, das Programmheft bietet als Übersetzungshypothese ein „existieren in“ an, allerdings schwingt bei diesen zwei Wörtern auch das Gegenteil mit: „Inesisto“ (Inexistenz).
Immer wieder verharren einzelne Tänzerinnen und Tänzer in ihren Bewegungen, werden erst durch die Impulse anderer Partner zu neuem Leben angeregt, als seien sie für kurze Zeit in eine Totenstarre verfallen, um sich dann aneinander zu klammern. Faszinierend, wie dabei, um nur ein Beispiel zu geben, die Körper von Rocio Aleman und Timoor Afshar zu einer körperlichen Gemeinsamkeit verschmelzen, ohne ihre Individualität aufzugeben. Dieses Spiel von Existenz und Nicht-Existenz, von Leben und Tod wird unterstrichen durch die fulminante Bühne von A.J. Weissbard, der den Raum einzig durch Lichtwände gestaltet. Dabei werfen die tanzenden Körper nicht selten an der gegenüberliegenden Bühnenwand Schatten – ein Mit- und Gegeneinander von realer Welt und Schattenreich, von Lebensraum und Totenreich, und gelegentlich wird das Licht so gleißend hell, dass die realen Körper der Akteure bloße Schatten werden.
Schließlich bleiben Tänzer auf dem Boden liegen, reglos, wie tot unter einem schmalen blauen hellen Lichtstreifen – das hätte das Ende einer fulminanten tänzerisch-philosophischen Auseinandersetzung mit Sein und Nichtsein ergeben können mit einer Art stummem „Paukenschlag“ zum Schluss. Doch dann erwachen die Körper zu neuem Leben. Zu immer lauter werdenden wummernden elektronischen Klängen greifen sie mit machtvollen Armbewegungen weit aus, doch ergibt das keineswegs ein neues „Kapitel“ in diesem Stück. Vittoria Girellis bis dahin so präzise konstruiertes Stück verliert sich ein Stück weit in Beliebigkeit.
Auch das neue Stück von Alessandro Giaquinto – wie Vittoria Girelli Tänzer am Stuttgarter Ballett – ist in einem Zwischenreich angesiedelt, nicht ganz so philosophisch zwischen Sein und Nichtsein, sondern zwischen den Zeiten, dem Jetzt und dem Gestern. Es ist ein Stück um Erinnerung. Zu Beginn sitzt ein Tänzer traurig an einen Stahlbetonblock gelehnt. Er sinniert, er streift mit den Fingern die Konturen des Blocks nach, eines gewöhnlichen Stahlbetonblocks, als wäre er eine Kostbarkeit, doch das, so kann man assoziieren, ist das Leben. Es besteht nun einmal aus gewöhnlichen Dingen, die durch unser Leben und unsere Erinnerung Bedeutung erhalten. So hat Bühnenbildnerin Chiara Bugatti denn auch als zweites dominierendes Element einen Schutthaufen auf die Bühne gestellt, einen Haufen, auf den an einer Stelle in Giaquintos Stück die Tänzerinnen und Tänzer gewissermaßen weiterarbeiten, indem sie noch mehr Schutt auf den Berg werfen; es ist ihr Leben.
Giaquintos Stück ist eine Art tänzerische Elegie: es geht um Erinnerung an Begegnungen, aber auch an Trennungen. Giaquinto gelingen dabei faszinierende und anrührende Bewegungen und Bewegungskonstellationen zwischen den Tänzern, die doch immer wieder vereinzelt auftreten, als sei Gemeinsamkeit ein kostbares, weil seltenes Gut. Und wenn sich Paarungen ergeben, scheinen sie nicht von dieser Welt, wie bei Timoor Afshar und Anouk van der Weijde.
Plötzlich beginnt der Geröllberg in sich zusammenzusinken, bis fast nichts mehr von ihm übrig ist – eine erschütterndes Bild auf die Vergänglichkeit des Seins. Entsprechend entsetzt reagieren die Figuren auf der Bühne. Hier hätte Giaquintos Choreographie, deren Titel Ascaresa dem Programmheft zufolge Nostalgie bedeutet, ein in sich schlüssiges Ende gehabt, doch führt auch er wie Vittoria Girelli sein Stück weiter, ohne dass diese Weiterführung nennenswert Neues bringen würde. Es wiederholen sich letztlich die aus der ersten Hälfte bereits bekannten Gesten für Abschied, Trennung, Verlust, und auch bei Giaquinto ist dieser abschließende Teil zu lang, sodass er den wunderbar konzentrierten ersten Teil verwässert. Auch eine kurze Choreographie sollte einer stringenten Dramaturgie folgen und gehorchen – diesen beiden Stücken fehlte sie.
Das lässt sich von dem Abschluss des Abends nicht behaupten, im Gegenteil. Fabio Adorisio schafft in seinem neuen Stück Lost Room durch leichte Variationen von Bewegungsabläufen zu Beginn und gegen Ende hin eine Art choreographische Klammer, die sein Stück zu einem Ganzen schweißt, und das, obwohl es darin um Beziehungen zwischen den Geschlechtern in mannigfaltigster Hinsicht geht, um ein Zueinanderfinden, um Trennung, um Beziehungskämpfe, und dabei über weite Strecken auch um das Ringen um Dominanz zwischen Frau und Mann. Mit dramatisch-energischen Bewegungen fulminant ausagiert von Agnes Su, Mizuki Amemiya und Eva Holland-Nell bieten die Damen den Herren geradezu kämpferisch Paroli, die sich dagegen zu behaupten versuchen; David Moore, Adhonay Soares da Silva und Matteo Miccini gelingt da ein faszinierendes Schwanken zwischen kraftvollem Aufbegehren und subtilem Nachgeben.
Fabio Adorisio wählte sich dazu neben einer Originalkomposition von Marc Strobel ein Stück von Sergej Rachmaninow und hatte damit gewissermaßen zwei Grundsäulen seiner Choreographie: die stupende Virtuosität des Pianisten Rachmaninow – sie äußert sich in extrem rhythmischen, manchmal ruckhaften Bewegungen der Akteure – und das Erbe der Spätromantik mit Rachmaninows aufwühlenden Emotionen. So ganz freilich wollen diese beiden Bereiche nicht zusammenpassen, auch dies letztlich eine Frage der dramaturgischen Struktur.
So ist ein Abend mit großen Momenten und faszinierenden Bildern gelungen, wenn auch nicht unbedingt ein ganz großer Ballettabend.