Werner Egk ist heutzutage hauptsächlich als „deutscher Komponist mit drei Buchstaben“ aus Omas Kreuzworträtseln bekannt. Da er sich der Sympathie und Protektion der Nazis erfreute, meinen auch nicht wenige, dass man es ruhig dabei belassen könnte. Doch dann müsste man nicht nur Egks Oeuvre in der Mottenkiste belassen, sondern konsequenterweise auch gleich die von Richard Strauss und Carl Orff dorthin verbannen.

Nicht, dass es der 1901 als Mayer geborene Egk, dessen Künstlername gern mit dem Akronym „Ein großer Komponist“ erklärt wird, an Beliebtheit oder musikhistorischer Bedeutung mit den Genannten aufnehmen könnte, doch überrascht diese Neuproduktion seines 1938 uraufgeführten Peer Gynt mit der Erkenntnis, dass sich eine Auseinandersetzung mit seinem Werk lohnt – wenn kompetente Künstler am Werk sind.

Regisseur Peter Konwitschny attestiert Egk im Programmheft dramatisches Geschick und „gute, abwechslungsreiche“ Theatermusik; letztere zeigt sich im Fall von Peer Gynt, zu dem Egk auch (sehr) frei nach Ibsen das Libretto schrieb, als Collage verschiedenster Stile auf neoklassizistisch-tonalem Grund. Da findet man Anleihen bei Strauß, Strawinsky und Weill, Filmmusikalisches wie bei Korngold, Lateinamerikanisches und Operettenhaftes – sogar Offenbachs berühmter Cancan wird zitiert. Einiges hat oratorischen Ernst, in anderen Szenen spielen gestopfte Trompeten das, was Hitler und Goebbels bei anderen als entartete Musik brandmarkten, bei Egk aber überraschend spannend fanden.

Zusammengehalten wird das Ganze von der Titelpartie: Peer Gynt irrlichtert in einer eigenen musikalischen Sprache durch verschiedene Welten, geschildert in neun Bildern. Als armer Außenseiter lebt er auf dem Land in einer Phantasiewelt und träumt davon, Kaiser der Welt zu werden. Nach seiner Reise, die er wegen eines von ihm verursachten Skandals auf einer Dorfhochzeit antritt (und weil ihn die von ihm verehrte Solveig ohnehin abgewiesen hat), gelingt es ihm, über einen Umweg ins Reich der Trolle und nach einer Affäre mit der rothaarigen Tochter des dortigen Königs, in Mittelamerika zumindest reich zu werden. Doch wie gewonnen, so zerronnen: nach weiteren Begegnungen mit Hafenkneipengesindel, mehr Trollen und Untoten kehrt er schließlich zu Solveig zurück. 

Bei Peter Konwitschny sind die Trolle Schnäppchenjäger an Wühltischen im Schlussverkauf, womit er berechtigte Konsumkritik übt und dem Publikum einen Spiegel vorhält. (Besitzt nicht jeder zumindest ein Ding, das billigst in Fernost produziert wurde?). Diese Idee ist wohl bewusst plakativ umgesetzt; Gleiches gilt für die Mittelamerika-Episode und die Welt der bleichen Untoten, wo das Geld schwarz und wertlos geworden ist und im aufgelassenen Bahnhof nicht einmal ein Zug nach Nirgendwo fährt, dafür aber der Tod im Auto vorfährt (mit beeindruckender Tiefe: Volksopernensemblemitglied Stefan Cerny, der mir zuletzt in Hoffmanns Erzählungen positiv auffiel).

Wie fast alles von Konwitschny ist auch diese Peer Gynt-Regie handwerklich perfekt, hat hohen Erinnerungs- und Unterhaltungswert und wirkt trotz überraschender Ansätze völlig selbstverständlich, ja gerade zwingend. Ein wenig kritisch darf man anmerken, dass hier aber das Plakative dem (auch vom Regisseur im Programmheft angesprochenen) Hauptthema, nämlich der Spannung zwischen einer etablierten Gesellschaft und ihren nicht integrierbaren Außenseitern, ein wenig die Show stiehlt. Manche stoßen sich auch an den langen Umbauzeiten zwischen den einfachen und doch detailliert ausgearbeiteten Bildern (Ausstattung: Helmut Brade), dabei passen die dazu gezeigten Videos von Wolken bestens zum Werk – schließlich träumt Peer anfangs davon, auf einer schwarzen Wolke davonzufliegen, und der Fülle an Eindrücken kann man in kurzen Pausen gut nachspüren.

Konwitschnys beste Idee ist es, sowohl Solveig, die oft in Peers Gedanken aufblitzt, als auch ihr verkommenes Gegenstück, die Rothaarige, von Maria Bengtsson singen zu lassen. Sie verkörpert die Dichotomie Heilige/Hure perfekt, überrascht mit blitzartigen Kostümwechseln und beherrscht die unterschiedlichen musikalischen Sprachen beider Frauen (lyrisch-elegisch die eine, schnell und synkopiert die andere) perfekt. Um zu beschreiben, wie sie in Solveigs Schlusslied „Du bist zu Haus“ tönt, darf man ohne Schamesröte das abgedroschene Wort „herzergreifend“ verwenden.

Mit dieser Ausnahmeleistung überstrahlt sie sogar ein wenig Bo Skovhus, diese berühmt-berüchtigte Urgewalt von Sänger-Schauspieler. Er ist ein großartiger Peer Gynt, der dieser Figur alle nur denkbaren Facetten abringt – bis hin zum Instinktgetriebenen, der sich in Unterhosen für eine Frau zum Narren macht. Exzellent besetzt sind auch alle übrigen Partien, von denen die beiden Tenöre (Rainer Trost als Trollkönig und Andrew Owens als Mads) nebst Natascha Petrinsky (Peers Mutter Aase) und dem bereits erwähnten Stefan Cerny hervorgehoben seien. Entzückend sind das Mini-Me von Solveig sowie das Trollkind. Das ORF Radio-Symphonieorchester Wien unter dem kompetenten Dirigat von Leo Hussain überzeugte an diesem Abend mit Wandlungsfähigkeit, welche auch der Arnold Schoenberg Chor, in diesem Werk zuweilen orchestral eingesetzt, einmal mehr bewies.

In der Schlussszene trinken Solveig und Peer Milch, was wohl als Kontrapunkt zum berauschten ersten Bild gedacht ist. Es ist Abend, man ist alt (und zufrieden) geworden, und als Zuschauer/in um eine Erfahrung, ja ein Erlebnis reicher. Man nimmt von diesem Peer Gynt eindeutig mehr mit als das bloß befriedigende Gefühl, eine weit verbreitete Bildungslücke geschlossen und Bekanntschaft mit dem heute kaum bekannten Opernschaffen Werner Egks gemacht zu haben.

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