Obwohl Giovanni Legrenzi, dem 2026 zum 400. Geburtstag gedacht wird, als Komponist wunderbarer Kammermusik heutzutage gottlob nicht mehr zu den Vergessenen zählt, haben es seine 19 Opern und zahlreicheren Oratorien immer noch schwer, gehört zu werden. Material, Ressourcen und – trotz einiger Ausnahmen – allzu eingefahrene Spielpläne sind weiterhin bekannte Fallen im betrieblichen Minenfeld der Alte-Musik-Schätze. Lediglich Legrenzis Giustino aus 1683 fand über die vergangenen zwei Jahrzehnte mehrere vereinzelte Aufführungen.

<i>Il Totila</i> mit Nuovo Aspetto und Solist*innen &copy; WDR | Thomas Kost
Il Totila mit Nuovo Aspetto und Solist*innen
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Christophe Rousset durfte an der Elsass-Lothringen-Oper La divisione del mondo vorstellen, konzertant wiederholt zur Einsetzung des Kölner FEL!X-Festivals. Aus Köln stammt das auf barocke Raritäten spezialisierte Ensemble Nuovo Aspetto um Lautenist Michael Dücker sowie den zupf- und schlagbesaiteten Seitz-Zwillingsschwestern, das sich jetzt unter Leitung des Cembalisten Luca Quintavalle für die legendäre Festivaldomäne der Tage Alter Musik in Herne neuzeitlich erstmals Il Totila annahm, 1677 von Legrenzi auf das Libretto Matteo Noris‘ geschaffenes Werk für das berühmte Teatro Santi Giovanni e Paolo in Venedig. In die musikmächtige Dogenrepublik war der Lombarde um 1670 gegangen, wo er später fünf Jahre Kapellmeister des Markusdoms werden sollte.

Totila konnte damals nicht bizarrer sein, die obligatorischen Gegensatzpaare von Tyrannei und Güte sowie Liebe und Widerstand im Verbund aus emotional-ernster und vorgreifend komischer, kompositorisch teils aneignender Umsetzung abzuhandeln. Dafür durften spektakuläre Aufmärsche, Käbbeleien und (lebende) Tiere nicht fehlen, um das nach immer üppigeren und ausgefalleneren Szenerien verlangende Publikum noch „befriedigen zu können“, wie Legrenzis späterer Alessandro-Librettist Aureli niederschrieb. Das Stück spielt im Setting der Belagerung justinianischen Roms Mitte des 6. Jahrhunderts durch die Ostgoten in Gestalt des Königs Totila und seines Feldmarschalls Vitige, die sich Senatorentochter Marzia und Konsulgemahlin Clelia gefügig machen wollen.

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Il Totila mit Nuovo Aspetto und Solist*innen
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Kommt es zu diesen Versuchen tragisch wie spöttisch mit einem Fenstersturz in die Arme des Feindes einerseits, mit geplanter Tötung von Kind und sich selbst andererseits bis zu gewaltsam-erpresserischer Ankettung am Schiffsmast und Duell auf kampierendem Soldatenkutter, nimmt das dramatische Panoptikum seinen Lauf im dritten Akt. Dort tauchen entweder aus kolportiertem Selbstmord oder Sturm samt Gefecht an Bord mit römischem Truppenoberst Belisario und Kollege Lepido für tot Geglaubte wieder auf. Beide Römer sind dabei in Marzia verschossen, nach deren Rettung und Befreiung ihres Papas Servio schlussendlich aber nur heroische Ritter der Kokosnuss. Bevor Marzia unter politischem Kuhhandel, dass ihre Verehrer ihr entsagen, wenn Totila Handlanger des Kaisers wird, mit Vati sowie Clelia mit Männe Publicola vereint ist, gerät jener Konsul noch in Error-in-persona- und Aberratio-ictus-Schwulitäten mit seinem Diener Desbo. Verrückt genug?

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Heikel zumindest, mit der solistischen Besetzung des Ensembles eine weitgehende Einschränkung der Kontraste in Kauf zu nehmen, die neben dem positiven Aspekt eines dem Grunde nach erzielten Balanceausgleichs zwischen den Instrumentalisten und Sängern im herausfordernden Herner Kulturzentrum ein Bestandteil einer Darbietung mit verschiedenen Hälften war. So mutete der erste Part bis zur elften Szene im zweiten Akt als losere, zähe Abhandlung ohne große innere Spannung und dem Ausnutzen der dem Werk innewohnenden Effekte des rezitativgeprägten Corpus an, zu dem noch unabgestimmte Einsätze durch fehlende Auftaktzeichen des freundlich-gemütlichen, jedoch eher monogestisch agierenden Dirigenten kamen.

Gelungener und der Entdeckungsanerkennung angemessen dagegen der zweite – in den Ober- und Mittelstimmen rekonstruierte – Teil, in dem nicht nur beispielhaft an zwei Totila-Arien elementare Taktvorgaben Quintavalles für erwartete Genauigkeit sorgten, sondern Nuovo Aspettos verstärkt rhythmisch-theatralischerer Ansatz auf eigentlich souveränem (Continuo- und dann etwas spritzigerem Ritornelli-)Niveau der pfiffigen und reizvollen Legrenzi-Kondition zu mehr Effektivität und hörgefälliger Genugtuung verhalfen.

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Il Totila mit Nuovo Aspetto und Solist*innen
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Insgesamt ergiebiger erwiesen sich die vokalen Bemühungen, den jeweilig verzweifelten, verkämpften, doch hoffenden Figuren mit Ausdruck und organischerer Artikulation zu begegnen. Am stimmigsten erzielten dabei Chiara Brunello als leidenschaftlich-stolz besorgter Publicola mit farbintensivem, noblem Kontra-Alt, der deklamations- und registerbeflissene, timbrerunde Mezzo Verena Kronbichlers als im Vergleich zu Genosse Totila umgänglicherer Vitige, im Soprankolorit auch affekt- und phrasierungsreich gestaltende Raffaella Milanesi als wechselbadgestählte Clelia und Valentin Ruckebier mit feudalem Bass als würdiger Servio Wirkung.

Überzeugend ebenfalls Lucia Cirillo mit wutakzentuiertem Mezzo für temperamentsverwöhnten Totila und Belisario-Einspringer Luca Cervoni mit ausgewogen-solidem Tenor, die mit Vorgenannten sowie angenehmem Bariton Olivier Bergerons als Helfer Cinna und Kapitän Teodato außerdem stilistisch behände Impressionen hinterließen. Blieb Luísa Tinocos Mezzo als Desbo zu schüchtern-verhalten, verdienten sich Roberta Invernizzi als bedrängte Marzia besonders mit flüssigem Rezitativvortrag und einigen reinen Artikulationselementen sowie Charlotte Langners feiner Sopran als Lepido trotz aller vibratolyrischen Merkmale Sporen in dieser Produktion.

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