Darauf sind die Münchner Philharmoniker mit Recht stolz: im Oktober 1900 leitete Gustav Mahler die damals noch unter dem Namen Kaim-Orchester spielenden Musiker bei der Münchner Erstaufführung seiner Zweiten Symphonie. Nachdem Kritiker das Werk 1895 bei seiner Berliner Uraufführung noch als „Lärm“ oder „Unfug“ bezeichnet hatten, wurde die Münchner Premiere vom Publikum einhellig gefeiert. Mahler, bis dahin nur als künstlerischer Leiter an Opernhäusern anerkannt, gelang damit auch sein Durchbruch als Komponist.
Für den Philharmonischen Chor München, bereits 1895 von Franz Kaim gegründet, gehört Mahlers Zweite ebenso zum Kernrepertoire. Chordirektor Andreas Herrmann hatte die gut 90 Sängerinnen und Sänger bestens vorbereitet; die Platzierung auf dem Balkon der Isarphilharmonie, hinter dem Orchester, zeigte ein weiteres Mal optimale Transparenz des imposanten Konzertsaals, die den Klangwelten von Chor und Orchester Trennschärfe gestattete, ohne die notwendige Verschmelzung zur emotionalen Dichte des interpretatorischen Ausdrucks zu behindern.
Diese Zweite nun im Zusammenwirken mit der zurzeit weltweit umworbenen litauischen Dirigentin Mirga Gražinytė-Tyla, schon im Dezember 2022 als Einspringerin beim Debütkonzert mit dem Orchester bejubelt, zur großformatigen Eröffnung der neuen Saison in der Isarphilharmonie aufs Programm zu stellen, spornte hörbar und offensichtlich alle Beteiligten zu Höchstleistungen an. Gražinytė-Tyla war bereits bis 2021 Musikdirektorin des City of Birmingham Symphony Orchestra, in der Nachfolge von Sir Simon Rattle und Andris Nelsons; in München hatte sie inzwischen hochgelobte Gastspiele an der Staatsoper und beim BR-Symphonieorchester.
Gustav Mahler knüpfte nicht nur an Beethovens Neunte, sondern auch an seine eigene Erste an: Deren jugendlich-ungestümen „Titan”-Helden trägt er in der ersten Abteilung, die er ursprünglich noch als „Todtenfeier” bezeichnet hatte, sozusagen zu Grabe, reflektiert ein ganzes Leben zwischen Lieben und Leiden. In markant kraftvollem Anlauf ließ Gražinytė-Tyla Celli und Kontrabässe das erste, heroische Thema herausschleudern, entwickelte den zweiten Themenkomplex wie eine ruhevolle Morgenstimmung, die in träumerisch-süßen Weisen der Klarinette mündete oder im Tau-tropfenden Pizzicato der Streicher, das die verklärte Melodie des Englischhorns einbettete. Dabei war Gražinytė-Tylas Zeichengebung sehr expressiv, in der Gewalt von Katastrophen mit weiten, oft explosiven Schwüngen von Armen und Oberkörper klar konturiert, die doch in der grazilen Person der Dirigentin scheinbar fest verwurzelt wirkten in der Mitte ihres Podests.
In jäh umschlagender Stimmung folgte das Andante moderato als friedliches Naturidyll, lebte von immenser Streicherkultur der Philharmoniker, die mit den Harfen in Schubertscher Innigkeit traumverlorener Kantilenen beeindruckten. In ruhig fließender Bewegung schloss sich der Scherzo-artige dritte Satz an, dessen Kontraste aus den Naturlauten von Antonius’ Fischpredigt und wie im Zerrspiegel grotesker Parodien böhmischer Tanzweisen von der Dirigentin ebenso spöttisch wie ziselierend gestaltet wurden.
Sehr zart und textdeutlich gestaltete Okka von der Damerau das Urlicht, das fragend kindlich-gläubiges Sehnen ausdrückte, vom Tod wegführte „bis in das ewig selig Leben“. Blechbläser waren, wie vom Komponisten gefordert, im umlaufenden Hinterraum des Podiums platziert, ihr sphärischer Klang durch die seitlichen Türspalten geheimnisvoll hinzugemischt, wodurch der innige Charakter der Musik erst recht faszinierte.
Im Finalsatz erweitert Mahler dies mit Klopstocks Auferstehungs-Ode und eigenen Versen zu einer der erschütterndsten Antworten der Musikgeschichte. Tod und Verklärung, Aufblühen und Entschweben: gewaltige dynamische Abstufungen zwischen seidig sonorem Fernorchester, prallem Riesenorchester mit Orgel und Glockenklang, drängend mahnenden Einwürfen der beiden hervorragenden Solistinnen Talise Lavigne und Okka von der Damerau. Und dann ein mystisch murmelnder Choreinsatz, der sich wie auf Flügeln über das Orchester so bezwingend aufschwang, wenn im kurzen Fugato die einsetzenden Stimmgruppen auch von ihren Plätzen aufstanden, wo „heißes Liebesstreben“ kein Halten mehr kannte und doch im dreifachen Forte klangprächtig blieb.
Mirga Gražinytė-Tyla gelang ein geniales Aushorchen der Grenzen, hinter denen Mahler weiterkomponiert, konnte bis in komplexeste Verflechtungen hinein Details hörbar machen und mit minutiöser Umsetzung von Mahlers Anweisungen bezüglich des Raumklangs die Chor-Apotheose in der Entwicklung vom geflüstert vibrierenden Beginn bis zur vulkanisch eruptiven Glaubenszuversicht der letzten Partiturseiten zum überzeugenden Erfolg führen.