Moby Dick gehört zum Kanon der großen amerikanischen Romane. Sein Autor, Herman Melville, auf dessen letztes Werk Billy Budd Britten seine gleichnamige Oper schrieb, war selbst Matrose auf einem Walfänger und hat 1851 seinen Roman von 135 Kapiteln auf der Basis von wahren Begebenheiten geschrieben. In seinem vielschichtigen Hauptwerk versuchte Melville, jede Art des Geschichtenerzählens und jede Art, über einen Wal zu sprechen, zu erfassen.
Die Künstlergruppe Moved by the Motion hat zusammen mit dem Schauspielhaus Zürich dieses Buchmonster im Frühling auf die Bühne gebracht. „Eines der ersten Dinge, die ich tat, war zu beschließen, einen Stummfilm daraus zu machen, so dass die Sprache im Grunde verschwindet“, sagt die Regisseurin Wu Tsang, die zusammen mit der Schriftstellerin und Filmemacherin Sophia al Maria auch den Text der Bühnenfassung zusammenstellte.
Wu Tsangs Filme, Installationen und Performances entspringen einer visuellen Sprache, die in der Kunst als „In-betweenness” (Dazwischen) beschrieben wird – Zustände, die sich nicht auf feste Vorstellungen von Identität, Erfahrung oder binärem Verständnis reduzieren lassen. „Denn eines der ersten Dinge, die mich zu dem Roman gebracht haben, war, dass er sehr queer ist; aber ich denke auch, dass das für mich im Moment das Uninteressanteste ist, denn es war nur eine Art Ausgangspunkt und wird dann zu einer Möglichkeit, über so viele andere Dinge zu sprechen.“
Ein anderer amerikanischer Schriftsteller, Fred Moten hat in diesem einzigartigen Kunstfilmprojekt die Rolle von Melvilles Hilfs-Unter-Bibliothekar übernommen. Moten beginnt die rätselhaften Anfangsszene geschminkt und genderneutral gekleidet in einer in warmes Licht getauchten imaginären Fantasie-Bibliothek. Mit warmer tiefer Stimme trägt er originale Textfragmente aus wenigen ausgewählten Kapiteln des Buches vor. Vor allem die Künstlerin Tosh Basco, eine der Gründungsmitglieder des Künstlerkollektiv, intrigiert mit großer schauspielerischer Leistung in seiner/ihrer mehr als doppelbödigen Rolle als Harpunier Queequeg.
In den darauffolgenden 75 Minuten stiftet der Film immer wieder Verwirrung über die Begriffe Geschichte, Wirklichkeit, Identität und Geschlechterrollen, wenn zum Beispiel die Matrosen an Bord ihre Wäsche waschen oder feinsinnig choreographiert das Schiffsdeck schrubben. Ganz kurz erscheint dann sogar im Fernrohrfokus des Matrosen im Ausguck eine Bohrinsel, wie um auch die letzte Sicherheit einer textgestreuen Literaturverfilmung in Frage zu stellen.
Live im großen Saal des Amsterdamer Muziekgebouw sitzen die fast ausschließlich weiblichen Musiker von Bryggen, einem zeitgenössischen Streichorchester aus Brugge unter der Leitung von Kevin Griffiths. Sie spielen Musik der Pulitzer-Preisträgerin Caroline Shaw, des mit dem Grammy Award ausgezeichneten Cellisten Andrew Yee und der Produzentin elektronischer Musik Asma Maroof, die ab und zu packende Elemente kennt, aber sich gegen die Kraft des visuellen Powerplays von der Leinwand nur mühsam durchsetzen kann.
Der Film endet in ebendieser Bibliothek, wenn der Schiffsjunge Pip dort aus ozeanischen Strudeln ausgespuckt wird und daraufhin lächelnd und mit gekreuzten Beinen in Moby Dick zu lesen beginnt, dazu augenzwinkernd angespornt von Moten. Herrlich, wie in dieser Szene die Hingabe ans Lesen auch ohne erhobenen pädagogischen Zeigefinger in Szene gesetzt wird.
Mir hat die Vorstellung jedenfalls über sehr viel mehr als nur über Melvilles Roman die Augen geöffnet.