84 Tage. Das sind 2.016 Stunden – in dieser Zeit könnte man sich zum Beispiel Wagners Ring des Nibelungen 126 Mal komplett anhören! – und genau so lange war die Grazer Oper im coronabedingten Dornröschenschlaf. Die erste Vorstellung nach der Zwangspause hatte zunächst dennoch nur bedingt feierlichen Charakter: Hände desinfizieren bei Betreten des Hauses, Maskenpflicht bis zum Erreichen des Sitzplatzes, keine Pause, keine Gastronomie und ein nur zu knapp 10% gefülltes Haus sorgten für gespenstische Stimmung. Allerdings bietet dieses Setting durchaus auch Vorteile, denn an die fehlende Schlange vor der Damentoilette könnte man sich glatt gewöhnen; ebenso daran, dass durch die Verteilung des Publikums im Raum perfekte Sicht von jedem Platz gewährleistet ist. Und dass sich niemand während der Vorstellung zu husten traut, ist wohl der größte Pluspunkt!

Zuschauerraum mit Abstandsregeln
© Oliver Wolf

Unter dem Titel „Musenkuss” wurde dieser erste Abend gestellt, für den dramaturgischen Rahmen sorgte die souveräne Moderation von Intendantin Nora Schmid, die durch die Vorstellung führte. Dabei stellte sie die Verbindung zwischen der Deckenmalerei des Opernhauses (von Szenen aus Lohengrin über Goethe bis hin zu Apollo und den neun Musen), den gewählten Liedern und Arien und der aktuellen Situation her, sodass sich ein stimmiger Rahmen ergab. Wieder wachgeküsst wurde die Kunst zunächst von Tetiana Miyus als engelsreine Stimme von oben aus Verdis Don Carlo, die von der Galerie aus die Dunkelheit aus dem Opernhaus vertrieb. In den folgenden 90 Minuten wurde eine bunte Mischung aus der Welt der klassischen Musik geboten, wobei die Mitglieder des Ensembles ihre Stärken ausspielen konnten. So gab es ein Wiederhören mit schönen Erinnerungen aus vergangenen Saisonen, etwa mit Ivan Oreščanins melancholischer Interpretation von Mein Sehnen, mein Wähnen aus Korngolds Toter Stadt. Pavel Petrov begeisterte einmal mehr mit Kuda Kuda, das tenoralen Schmelz und technische Raffinesse verband, und Tetiana Miyus reiste als Rossinis Griechin Corinna einmal mehr mit elegantem Legato (doch nicht) nach Reims.

Ulrike Mattanovich und Tetiana Miyus
© Oliver Wolf

Und auch die aktuelle Saison war mit bereits Gehörtem und leider Abgesagtem vertreten: Die Eröffnungspremiere der Saison bot letzten September mit Don Carlo gleich große Oper, nun konnte Mareike Jankowski, die bei der Premiere als Page Tebaldo dabei war, zur Prinzessin Eboli aufsteigen und ihren kraftvollen, dunklen Mezzo strahlen lassen. Bei der letzten Premiere vor dem Lockdown zählte Neven Crnić als Leporello bereits die zahlreichen Eroberungen von Don Giovanni auf und auch an diesem Abend strömte sein Bassbariton mit Leichtigkeit und Witz durch die Registerarie; in Zeiten des Social Distancing dürfte wohl auch Leporello mangels neuer Eroberungen seines Chefs in Kurzarbeit gewesen sein, denn die Liste ist die gleiche geblieben. Einen “Ach-wie-schön-wärs-gewesen-Moment” bescherten Dariusz Perczak und Pavel Petrov mit dem Duett aus Bizets Perlenfischern, denn diese beiden Stimmen, die so ideal harmonieren, hätte ich wirklich gerne in einer kompletten Opernvorstellung gehört.

Pavel Petrov und Dariusz Perczak
© Oliver Wolf

Der Abschluss des Abends gehörte der leichten Muse, im Rahmen derer sich Ivan Oreščanin und Sieglinde Feldhofer ins Chambre separée begaben und Mario Lerchenberger und David McShane mit Cole Porter bei Shakespeare nachschlugen. Begleitet wurden die Sänger durch geballte Pianisten-Kraft, denn mit Maris Skuja, Günther Fruhmann und Markus Merkel (für jeden gab es aus gegebenem Anlass übrigens ein eigenes Klavier auf der Bühne!) waren gleich drei bewährte Musiker des Hauses im Einsatz. Zusätzlich steuerte Ulrike Mattanovich bei zwei Arien ätherische Harfenklänge bei.

Ivan Oreščanin und Sieglinde Feldhofer
© Oliver Wolf

Dass die Oper Graz über ein starkes Ensemble verfügt, ist schon im Normalbetrieb ein Vorteil, in der aktuellen Situation werden die hauseigenen Künstler nun zur tragenden Säule der Wiederauferstehung und erfreuen das ausgehungerte Publikum mit Opernschmankerln. Der Abend endete mit dem in Österreich geltenden Babyelefanten-Abstand: Es mutete zwar ein bisschen seltsam an, wie sich die Künstler beim Schlussapplaus vorsichtig im Schachbrettmuster auf der Bühne verteilten und wie das Publikum ohne zu drängeln den Saal verließ, aber die gemeinsame Freude über den ersten Opernabend seit 84 Tagen lässt alle äußeren Umstände ohnehin vergessen! 


Eindrücke unserer Rezensentin:

© Isabella Steppan


© Isabella Steppan
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