Es ist schon erstaunlich, wenn man bedenkt, was man mit Dmitrij Schostakowitschs Oper Die Nase da vor sich hat. Gerade erst 22-jährig schreibt ein junger Hitzkopf eine Oper, von der er später zu Protokoll gibt, er habe sie in gerade einmal drei Monaten fertiggestellt - eine unbeschreibliche Leistung. Dabei heraus kam ein Werk, das wohl kaum vollendeter sein könnte und dennoch auf eine Weise, die man nur als kühn bezeichnen kann, die Grenzen anerkannter Formen und Inhalte sprengt.
Die Handlung der Oper, die auf eine Erzählung des russischen Schriftstellers Nikolai Gogol zurückgeht, ist denkbar einfach: Ein Kollegienassessor wacht morgens auf und bemerkt, dass ihm seine Nase abhanden gekommen ist. Dort, wo sie eigentlich sein sollte, klaft eine leere Stelle, was für den Betroffenen eine gesellschaftliche Katastrophe bedeutet. Während er verzweifelt nach ihr sucht, macht die Nase Karriere und steigt in den hohen Beamtendienst auf. Als sie das Land verlassen will, wird sie gestellt. Wenig später ist die Nase auf einmal wieder an ihrem angestammten Platz und das Leben geht weiter wie bisher.
Eines wird deutlich: diese Oper ist eine Herausforderung. Die wahrhaft groteske Geschichte, die irgendwo zwischen Tragik und Komik anzusiedeln ist, ist tatsächlich nicht leicht auf die Bühne zu bringe. Zahlreiche Bilder sind heraufzubeschwören und nebenbei etwas über 50 Einzelrollen zu besetzten. Es ist sicherlich nicht zu viel gesagt, wenn man der Neuen Oper Wien zubilligt, diese Herausforderung im wahrsten Sinne des Wortes spielend bewältigt zu haben. Das junge Ensemble unter der Gesamtleitung von Walter Kobera bewies wieder einmal, wie lebendiges Musiktheater des 20. Jahrhunderts zu machen ist.
Leider konnte die szenische Umsetzung gegenüber der musikalischen nicht ganz mithalten. Die Inszenierung von Matthias Oldag bringt die groteske Handlung mit viel Bewegung und Aktion zeitgemäß auf die Bühne, aber die Ideen an die aktuelle politische wie gesellschaftliche Lage anzuschließen glückt nicht ganz. So blieb mir beispielsweise fraglich, was das Tapezieren des Bühnenhintergrundes mit einem Artikel zur Ukraine-Krise zum Geschehen auf den drei kongenial gestalteten Spielflächen (Hauptbühne, Bühne um den Orchestergraben und der Zuschauerraum selbst) von Frank Fellmann aussagen soll.
Dreh- und Angelpunkt des Geschehens war Bariton Marco Di Sapia als Kollegienassessor Platon Kusmitsch Kowaljow, eben der Mann, der seine Nase aus wundersamen Gründen verliert. Stimmlich verlangt diese Partie einiges vom Sänger ab. Nicht nur, dass er mit seiner wohl geführten Stimme jammern und klagen muss, er hat auch lyrische Phrasen mit viel Schmelz in der Stimme darzubieten. Das gelang Di Sapia in sänger-schauspielerischer Manier mit Bravour und reichen Farben, wobei er dabei nicht zuletzt vom Orchester oftmals etwas allein gelassen wird. Dies geschieht aus wohlkalkulierter Absicht des Komponisten. So muss Di Sapia den kürzeren gegenüber seiner zum hohen Staatsbeamten mutierten Nase (näselnd und höhensicher dargestellt von Alexander Kaimbacher) ziehen, dem die volle Orchesterkraft zur Verfügung steht.
An Alexander Kaimbacher, der an diesem Abend programmgemäß auch noch als Freund Kowaljows zu hören war, ist ohnehin ein besonderes Lob auszusprechen: Seine im modernen Musiktheater erprobte Stimme musste er auch seinem Tenorkollegen Lorin Wey leihen, der aufgrund einer Erkrankung seinen Part bis auf wenige Phrasen und den gesprochene Text „nur“ spielen konnte. Dies tat er jedoch mit großem körperlichen Einsatz, wie nicht zuletzt die Szene des Dieners zeigt, in der Iwan die Abwesenheit seines Herren mit Drink im Solarium genießt.
Wenn die Rede auf Höhenleistungen fällt, so dürfen die Damen nicht vergessen werden. Zuallererst ist da Megan Kahts zu nennen, die neben anderen Rollen auch die undankbare Frau des Barbiers (mit stimmgewaltigem Bass: Igor Bakan) zu geben hatte. Sie keifte und zeterte markerschütternd und man könnte meinen mit unermüdlicher Stimmkraft. Dem standen auch Tamara Gallo (mit erstaunlich gut geführter Tiefe) und Ethel Merhaut in nichts nach.
Die Chorpartie, und nicht nur die, wurde souverän vom geschichtsträchtigen Wiener Kammerchor in der Einstudierung durch Michael Grohotolsky bestritten. Der gerade einmal 13-köpfige Chor erwies sich als äußerst präsent im Bühnen- wie im musikalischen Geschehen. Als Höhepunkte können dabei zweifellos die Kirchenszene und das lyrische Lied der Soldaten gelten. Trotz der minimalen Größe des Chores gestalteten die Sänger die Szene in der Kasanser Kathedrale zum vollklingenden Chorstück orthodoxer Provenienz. Dabei waren die Einsätze präzise und die Soli wohlklingend ausgefeilt dargeboten, sodass tatsächlich so etwas wie eine Kirchenstimmung entstand, vor der sich die Begegnung des „Helden“ mit seiner Nase abspielte.
Es ist schon erstaunlich, was Walter Kobera aus seinen knapp zwanzig Musikern herausholt. Seiner temposicheren und den Sängern schmeichelnden Interpretation mit dem Amadeus-Ensemble Wien war wieder einmal nichts hinzuzufügen. Ein spannender Opernabend, der einmal mehr gezeigt hat, was die Neue Oper Wien leisten kann.