Auch wenn seit 2019 keine Wagner-konnotierten Konzerte Concerto Kölns mit Kent Nagano mehr stattfanden, gingen die Vorbereitungen für das Projekt „Wagner-Lesarten“ unvermindert weiter. Die Finanzierung des konzertanten beziehungsweise durch Gestik, Mimik und situative Bewegungsmuster halbszenischen Rings am Rhein war endgültig gesichert, so dass die Instrumentenbauer an den noch nicht vorhandenen historischen Repliken werkeln und die Musiker diese erstmals erproben sowie konkret einstudieren konnten. Des Weiteren beschäftigten sich die verantwortlichen Künstler und Wissenschaftler mit den handfesten Interpretationspraktiken, dort insbesondere mit dem so essenziellen Konfliktfeld Gesang, Text, Sprache. Jetzt war der Tag gekommen, die Erkenntnisse endlich in der tatsächlichen Umsetzung Richard Wagners Vorabend zum Bühnenfestspiel, dem Rheingold, zu erleben. Dabei sei daran erinnert, dass als Alternativangebot zum Bestehenden in der Rezeption versucht wird, die Klänge, Vorstellungen oder Gegebenheiten der Bayreuther Uraufführung mittels Rückgriffen auf die Besetzung der Münchner Hofkapelle von 1882 zu rekonstruieren.

Kent Nagano während der Generalprobe
© Heike Fischer

Und darin wurde zum Glück – teils bereits durch den Vorgeschmack der Konzerte erwartet, teils dadurch noch konsequenter erhofft – offenbart, dass selbst gelobte, konventionelle, über Jahrzehnte tradierte Interpretationen eher wenig mit Wagners Prämissen zu tun haben. Mein Artikel zu den Hintergründen des vor vier Jahren begonnenen Unterfangens gibt mir in knappen Aufblenden an entscheidend herausgegriffenem Beispiel dabei Gelegenheit, die dort aufgestellten, klassischen Interpretations-Kriterien am Live-Resultat abzuklopfen und höreindrücklich zu beschreiben. Die damals da lautende Überschrift, die ich mit dem Richard-Strauss-Zitat „Glaubt mir, es ist wirklich falsch, was ihr in Bayreuth macht!“ betitelt habe, erwies sich demnach mehr als zutreffend denn als ein bisschen reißerisch.

Eva Vogel (Flosshilde), Ida Aldrian (Wellgunde) und Ania Vegry (Woglinde) während der Generalprobe
© Heike Fischer

Einzig im Punkt des Tempos, auf das sich unter anderem auch der Strauss-Spruch wegen ständig bemängelter Langsamkeit in der Wiedergabe Wagners Werke bezieht, begann ein ursprüngliches Bayreuther Abweichen von den Plänen des Komponisten zur relativierenden Entschuldigung aller bereits bei der Premiere, so dass er den Stil im Großen und Ganzen geprägt hat und sich Nagano mit 2:16 Stunden Spieldauer jetzt in „halb-authentischer“ Weise zu eigen machte. Dirigent Hans Richter hatte nämlich die ersten Bayreuther Festspiele am 13. August 1876 in 2:31 Stunden eröffnet, ordnete Wagner doch an, Rheingold dürfe nicht länger als zwei Stunden dauern.

Daniel Schmutzhard (Alberich) während der Generalprobe
© Heike Fischer

Den Stein ins Rollen brachte Nagano dennoch durch nur gelind-starke Rubati bei ansonsten dagegen etwas fulminanter geführten Accelerandi, die mit den Dynamiken und differenzierten Spielweisen Concerto Kölns die geforderten Modifikationen und Kontraste Wagners faszinierender orchestraler Personen-, Orts- und Gegenstandszuschreibungen – den Begriff „Leitmotive” schätzte Wagner überhaupt nicht! – frappant zur Geltung brachten. Zwar schloss diese Frappanz auch den singulär verkorksten Klangmoment der Ambosse in Nibelheim ein, die vom Off der Bühnenseite wie bimmelnde Kuhglocken tönten, doch manifestierten das sparsame, nur ausgewählt romantische Vibrato, das daher umso feinere Portamento oder die wechselnd harten bis ganz harten Schlägel Stefan Gawlicks Pauken, dass die mitunter gewohnten Mythen und übernommenen Moden „moderner“ bisher vernommener Praktiken bewusste Effekte und Farben abschwächen.

Tijl Faveyts (Fasolt), Sarah Wegener (Freia) und Christoph Seidl (Fafner) während der Generalprobe
© Heike Fischer

Ist das ja nicht verwunderlich, gilt das erst recht zudem für die nun mal weniger nivellierten Instrumente, bei denen Ritterbratsche, Altoboe, Wagnerfagott, historische (Bass-)Klarinette, Ventilhorn, Wagnertuba, (Bass-)Trompete und (Kontrabass-)Posaune in tieferer Stimmung oder Transponierung Spannung, Neugierde sowie denkwürdig-dramatische, körnige Kleckse an Natürlichkeit und Strahlung der Elemente, Riesenschritte, Schmiedestätten und Burg für das „Bühnenbild“ waren. Mit den (weiteren) darmbesaiteten Streichern befanden sie sich in der – damit balancemäßig optimalen – antiphonen deutsch-französischen Aufstellung, die derjenigen des Bayreuther Grabens nachgebildet wurde, allerdings – wie bei einer Konzertanz fast üblich und von Wagner zum Anlass der Bedeckelung genommen – das Übertönen der Sänger im Fortissimo nicht veränderte.

Derek Welton (Wotan) und Stefanie Irányi (Fricka) während der Generalprobe
© Heike Fischer

Den Darstellerinnen und Darstellern blieb es aber zu meiner und der gesicherten großen Zufriedenheit Wagners erspart, zu schreien, es sei denn das Orchester wurde mit dieser explizit einmaligen Ausdrucksanforderung überraschend kurz Teil des vokalen Geschehens, als es als Nibelungen Alberichs knechtend harte Hand zu spüren bekam. Ansonsten durfte Alberichs dümmlicher Bruder Mime mit Thomas Ebensteins Lautmalerei jaulen, nachdem sich der gegenüber den mit Mendelssohn'scher, parodistischer Sprechphrasierung naiv-lockenden Rheintöchtern überlegene, gegenüber Wotan und Loge übermütige Besitzer von Ring und Tarnhelm durch Daniel Schmutzhards vorzügliche Klarheit sein Volk zum Untertan gemacht hatte.

Thomas Mohr (Loge) und Thomas Ebenstein (Mime) während der Generalprobe
© Heike Fischer

Allein diese Merkmale kennzeichneten besondere Auffälligkeiten bei Textbehandlung und Gesang, in puncto Verständlichkeit mit deutlichen Abzügen bei Stefanie Irányis vorwurfsvollem Ehestreit-Counterpart Fricka. Zu ihnen – neben allgemeiner, von Wagner pedantisch unter „richtigem Deutsch“ geforderten Akzentuierung der Vokale – kam durch den S-Eintrag zwischen jedem „ch“ eine weitere Nachbildung der Sprache, mit der Gerhild Romberger als weise Erda vom Emporennaufgang ihre Mahnung der Götterdämmerung zum mächtig-lockeren, ausdrucksfreudigen Derek Welton alias Wotan schickte, dem windigen Geschäftsmann mit seinem fast evangelisten-wissentlichen, provozierenden Machenschaften- und Listmeister Loge (bis auf manches Abgleiten ins höhere laute Drücken großartig darin Thomas Mohr).

Wähnten sich die Götter im übertünchenden, unheilvollen Ideal-Glanz Walhalls, wogen allen Aufführenden nach dem letzten Zuwortmelden der Rheintöchter aus dem unsichtbaren hinteren Oberrang mit der fünften Harfe – und damit eine weniger als von Wagner vorgeschrieben – die stehenden, klatschenden Wellen für diesen ersten Aufschlag Concerto Kölns historisch-informierten Rheingolds entgegen.

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