Eppstein, Erfurt, Winnenden, Graz. Schulen, an denen junge Amokschützen Kameraden und Lehrkräfte töteten oder verletzten. Die Liste der Orte ist noch viel länger, in den Vereinigten Staaten erschütternd groß. Die finnische Komponistin Kaija Saariaho hat das Phänomen, das seit den 80er Jahren zu beobachten ist, zum Thema ihrer letzten Oper gemacht. 2021 wurde Innocence, ihre fünfte Oper und die erste mit einem Gegenwartsthema, im Rahmen des Festivals d’Aix-en-Provence uraufgeführt. Inszenierungen in London und Helsinki folgten, auf deutschen Bühnen in Gelsenkirchen und Dresden. 2023 verstarb Saariaho an einem Gehirntumor. Dem Nürnberger Staatstheater ist eine weitere vielbeachtete Neuinszenierung des Werks gelungen, bevor auch die Metropolitan Opera New York für 2026 eine Produktion angekündigt.

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Almerija Delic (Tereza)
© Bettina Stoess

Saariaho schildert das gewaltige Trauma, das ein Amoklauf an einer Schule hinterlassen hat, mit archaischer Wucht. Ohne dabei einen bestimmten Vorfall im Auge zu haben, geht sie dabei der unvermeidlichen Frage nach Schuldigen nach. Es wird ein rauer Aufschrei als Reaktion auf die sinnlose Gewalt unserer modernen Zeit, der auch die Zuschauer nicht schont. Im Libretto der bedeutenden finnischen Autorin Sofi Oksanen geht es um Täter und Opfer: ihr plötzliches, zufälliges Zusammentreffen am Rande einer Hochzeit zwischen der Familie eines amoklaufenden jungen Mörders, die nach langen Jahren des Zurückziehens gerade die Hochzeit des jüngeren Bruders Tuomas mit seiner rumänischen Braut Stela feiert, und Tereza, Mutter von Markéta, einer der jungen Toten.

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Julia Grüter (Stela) und Martin Platz (Tuomas)
© Bettina Stoess

Zufällig wurde sie als Kellnerin des Caterings bei der Feier eingeteilt. Der ältere Bruder, gerade nach zehn Jahren Haft entlassen, tritt gar nicht in Erscheinung, wird nicht mal mit Namen genannt, obwohl fast permanent von ihm auf der Bühne gesprochen wird. Mit fünf Personen ist das Fest auffällig klein gehalten, eine Fotografin macht Hochzeitsfotos vor der Blumentapete. Ein Priester, der die Familie betreut hatte, ist der einzige Gast von außerhalb. Dass Saariaho die Eltern Henrik und Patricia als „Schwiegervater“ und „Schwiegermutter“ bezeichnet, weist darauf hin, wie intensiv sie Stelas Rolle im Spiel erachtet, die – ohne Kenntnis des dunklen Familiengeheimnisses – als einzige „innocent“ ist.

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Innocence
© Bettina Stoess

Auf Mathis Neidhardts dunkel gehaltener Bühne hat nur das nötigste Platz: ein schmuckvoll gedeckter Hochzeitstisch, fünf Stühle darum für die Familie, die im traditionellen Operngesang charakterisiert wird. Daneben als zweite Ebene ein drehbarer Kubus, in dem die überlebenden Studenten sowie ihre Lehrerin die Erinnerungen nacherleben: Prüfungsstress, Stuhlkreis, Telefongespräche, Gedankenfetzen des Amokgeschehens im Klassenzimmer. Das tragen sie in Jens-Daniel Herzogs Inszenierung oft aufgeregt hinaus, bis an die Rampe, kommen dem Publikum anklagend, fast unerträglich nahe. Sie äußern sich in einer Art Sprechgesang des mehrsprachigen Librettos, verstärkt durch Microports: „Ich kann nicht mehr zum Seminar gehen!“,  „Manchmal wache ich in einem Schrank auf!“ Caroline Ottocan, Lou Denès, Manuel Ried, Emanoel Velozo und Martha Sotiriou gestalteten diese Schicksale mit enormem, glaubwürdigem Leidensdruck.

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Martha Sotiriou, Manuel Ried, Fredrika Brillembourg, Emanoel Velozo, Lou Denès, Caroline Ottocan
© Bettina Stoess

Saariahos kompositorischer Clou ist die Ausgestaltung der Partie von Terezas ermordeter Tochter Markéta (welche als einzige der Opfer auftritt), die wie eine skandinavische Folksängerin mit abrupten Registerwechseln ihrer Stimme und Brüchen in der Tongestaltung sich in ihrer eigenen Klangwelt befindet. Erika Hammarberg, Gast im Ensemble, die bereits in Gelsenkirchen diese Rolle ausfüllte, sang faszinierend, wechselte zwischen engelhaft ätherischer Lage und fast schnarrend herben, tiefen Tönen.

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Jochen Kupfer (Henrik) und Chloë Morgan (Patricia)
© Bettina Stoess

Herzogs Anliegen, die Verdrängung der familiären Tragödie aufzubrechen und eher Ursprung und Verantwortung als Schuld freizulegen, ohne anklagend mit dem Zeigefinger zu drohen, konnte das gesamte Ensemble kongenial umsetzen und zugleich auch sängerisch höchstklassig überzeugen. Stela und Tuomas, der Hoffnung hatte auf ein unbelastetes Familienleben, obwohl er selbst eine Rolle im Amoklauf spielte, müssen erleben, wie die Hochzeit ein Jahrzehnt nach der Tragödie vergrabene Geheimnisse ans Licht bringt und alte Wunden aufreißt. Ob sie ein Paar bleiben können? Julia Grüter und Martin Platz waren bewundernswert prägnant, ergreifend in ihren Rollenporträts.

Erika Hammarberg (Markéta, Schülerin 1) und Caroline Ottocan (Lilly, Schülerin 2) © Bettina Stoess
Erika Hammarberg (Markéta, Schülerin 1) und Caroline Ottocan (Lilly, Schülerin 2)
© Bettina Stoess

Dem von Schuldgefühlen gequälten Vater Henrik, der sich vorwerfen muss, den Sohn zu früh im Schusswaffengebrauch unterwiesen zu haben, gab Jochen Kupfer ein bewegendes Profil. Chloë Morgan konnte den mütterlichen Schmerz in der Liebe zu ihren beiden Söhnen in Gesang und Spiel spürbar werden lassen. Den Pfarrer, der sadistische Neigungen beim Schützen beobachtet hatte, verkörperte Taras Konoshchenko mit Inbrunst. Als ehemalige Lehrerin beklagte Fredrika Brillembourg, in den Aufsätzen ihres Schülers nicht die Warnzeichen von psychischen Veränderungen erkannt zu haben.

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Jochen Kupfer, Julia Grüter, Almerija Delic, Martin Platz, Taras Konoshchenko, Chloë Morgan
© Bettina Stoess

Tief berührend entwickelte Almerija Delic als Tereza geradezu übermenschliche Kraft, die Familie mit den Fakten zu konfrontieren und die bürgerliche Fassade zum Einsturz zu bringen. Andererseits musste sie sich von Patricia erinnern lassen, wie Markéta mit ihren Spottliedern die Mobbingsituation aufgeheizt hatte.

Saariahos ungemein sinnliche Musiksprache, die sich aus schier unendlich vielen Abstufungen in Farbe, Dynamik, Artikulation und Rhythmus zusammensetzte, machten Chor und Philharmoniker des Staatstheaters unter der inspirierenden Leitung von GMD Roland Böer vollendet zu Klang. Weniger Selbstzweck als schützender Mantel für die jeweilige Rolle, bestach sie in geheimnisvollem Glimmen ebenso wie in schmerzerfülltem Aufbäumen.

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Erika Hammarberg (Markéta, Schülerin 1) und Almerija Delic (Tereza)
© Bettina Stoess

Ein kleiner, aufwühlender Funke Hoffnung wird sichtbar, wenn die tote Markéta ihre Mutter Tereza bewegt, versöhnter in die Zukunft zu sehen: „Kaufe mir keine Geburtstagsgeschenke mehr!“ Und wenn Saariahos Musik nach allem Schrecken eine milde Wärme ausstrahlt, die nicht in Trauer steckenbleibt. Der Weg zurück ins Leben erscheint möglich. Auf der Liste der Opern, die man in dieser Spielzeit nicht versäumen sollte, steht die Nürnberger Innocence weit oben.

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