Mit dem interessierten Blick zurück tun sich in der Geschichte stets markante Begebenheiten auf, die immer wieder staunen lassen ob der damit einhergehenden und im Heute Erkenntnisse bringenden Besonderheiten. Solches Zutragen stellt sicherlich der Dreißigjährige Krieg dar, als unter dem feindlichen Attribut religiöser Zugehörigkeit um die Macht Europas gekämpft wurde und abertausende Menschen ihr Leben in der Schlacht sowie den Hungersnöten und Pandemien verloren. Es ist die Zeit, in der ein Komponist Töne und Sprache in ungeheurer Weise für immer prägen sollte: Heinrich Schütz. Vor dem großen Knall lernte der Protestant in künstlerisch-verbundener, menschlicher Abkoppelung vom verfeindeten Treiben der Staaten beim katholischen, Venezianer Madrigal-Primus Giovanni Gabrieli jene Fähigkeiten, die ihn so bekannt machten und – glaubt man einer der Legenden und Provinienzthesen dazu – 1633 zu keinem geringeren als Rembrandt führten, um mit dem auf dem Sterbebett vermachten Ring des Lehrers für das berüchtigte Porträt eines Musikers Modell zu stehen.
Die Zahl Dreißig und die damit verbundene Blickrichtung spielte auch jetzt eine Rolle, als Dirigent Howard Arman die Balthasar-Neumann-Ensembles (inkl. Dirigent ebenfalls exakt 30 Mitwirkende) im Abschlusskonzert des FEL!X-Festivals der Kölner Philharmonie leitete. Mit der Gegenüberstellung von Gabrieli und Schütz erinnerte er nämlich an das Jahr 1991, in dem sich die Schütz-Akademie in Bad Köstritz konstituierte und Arman unter gleichnamigem Ensemble die Aufnahme Schütz und Venedig einspielte. Ein persönliches Jubiläum, das nun gleichzeitig Auftakt sein sollte für das Schütz-Gedenkjahr 2022.
Überschrieben wurde das Konzert mit „Venezianischem Klangfest“, um die Mehrchörigkeit der Spätrenaissance beziehungsweise des Frühbarocks und die daraus erzielten Effekte, die sich wiederum aus den mehrdimensionalen Gegebenheiten des Markusdoms geschält hatten, zu unterstreichen. Arman versuchte diese architektonischen Möglichkeiten halbwegs auf die Bühne der Philharmonie zu bringen, indem er die Aufstellungen von Instrumental- und Vokalchören mit Ausnahme des mittigen Continuokerns aus Truhenorgel, Erzlauten, Barockharfe und Violone unterschiedlich anordnete. Dies gelang in den sechs Beispielen Gabrielis allerdings nicht überzeugend, da die Gesangsstimmen, allen voran in Favoritchören, von der Überzahl der beiden Cornetti, des Dulzians und der drei Sackbuts oder der drei hohen Streicher mit Barockcello überlagert waren. Zu dieser unausgereifteren Balance und einem somit auffälligen Verlust an Textdeutlichkeit kam Armans Herangehensweise hinzu, die vokalen Chorstimmen in Einklang zu seinen Bewegungen beflügelnd weich, elegant und dezent singen zu lassen, so dass dem Text, aber auch den rhythmischen Changierungen, eine Spur Dramatik, Spannung und Halt fehlte. Bezeichnend daher, dass ausgerechnet die zwei eingeschobenen Canzonae für Streicher und Orgel respektive mit Cornetti – ebenfalls in flügelleichter Übereinstimmung zum Gesang – ein Mehr an phrasierter, rhetorischer und lebendiger Handschrift erkennen ließen.
Konnte das abschließende, vokal achtstimmige Magnificat Gabrielis bereits etwas charakterlicher und griffiger intoniert werden, löste der mit sechs Stücken zusammengestellte Querschnitt Schütz' berüchtigster Zeugnisse das Versprechen nach einer differenzierteren Klangpracht besser ein. Sowohl das starke „Alleluja“ SWV 38 aus den Psalmen Davids als auch das delikatere „Herr, wenn ich nur dich habe“ aus den Musicalischen Exequien wiesen kontrastgeformtere, textbasiertere und verständliche Hörerlebnisse auf wie sie die hervorragenden Fertigkeiten des BNC und BNE auch auszeichnen. Tenor Tilman Lichdi unterstützte dabei im ersteren von Schütz' so effekt- und affektreichen Dopplungs- und trinitatischen Tutti-Preisungen die besungenen „Pauken“ und „Cymbalen“ mit schellenlosem Tabourin und Fingercymbal.
Wirkliches Highlight sollte das superschnelle (vereinzelt nicht ganz astreine) „Saul, Saul, was verfolgst du mich“ aus den Symphoniae sacrae III werden, in dem Dynamik, Deklamation und Thetaralik die erhoffte Qualität eines farbigen, mitreißenden Klangfestes der Mehrchörigkeit schufen. Diesem standen auch – abgesehen vom erneut unbalancierteren und durch virtuose Zink-Diminutionen rhythmisch uneindeutigeren Pfingskonzert Veni, sancte Spiritus – das artikulatorisch und diktionsmäßig entzückende, intensiviertere, liebliche, doppelchörige Stehe auf, meine Freundin sowie das Magnificat für alle Stimmen in nichts nach. Sogar im Lateinischen entwickelte sich zu guter Letzt also eine abgestimmte, fruchtbare Darbietung, die klanglich Frieden brachte und tatsächlich eben jene mustergültige Eintracht zum Venedig Gabrielis herstellte.