Zu den Osterfestspielen in Baden-Baden haben die Berliner Philharmoniker unter der Leitung Sir Simon Rattles und der Mitwirkung hochkarätiger Sänger vor rund 14 Tagen Puccinis Tosca aufgeführt. Nun war in Berlin eine konzertante Darbietung der Oper zu hören, die zu den beliebtesten des Repertoires überhaupt gehört. Rattle dirigierte sie allerdings zum ersten Mal; die Philharmoniker haben sie zuletzt 1989 unter Karajan gespielt. 

Rattle studierte mehrere Ausgaben der Partitur und legte eine Interpretation vor, die aus der Perspektive der Moderne vorgenommen ist - und das zu Recht und überzeugend. Dass Puccini sich mit Wagner beschäftigte, als an der Tosca arbeitete, und doch eine ganz andere Oper entstand, wurde bei Rattle und dem Orchester in jedem Takt spürbar. Die Partitur ist zwar durchkomponiert und auch durch Leitmotive zusammengehalten, aber ihre Handlung ist nicht von mythischer Tragik und der ihr eigenen Konsequenz getragen. Das Geschehen resultiert aus etlichen Zufällen; so ergeben sich Überschneidungen in einem Handlungsgefüge, das ständig gestört wird, sodass nicht ein Dialog wirklich zu Ende geführt wird. Dass Rattle die Modernität der Partitur so klar hervortreten lässt, verdankt er nicht zuletzt seiner großen Kenntnis der modernen Musik. 

All dies lässt die Qualitäten einer konzertanten Aufführung gut zur Wirkung kommen – vor allem, wenn ein solches Orchester sich dieser annimmt. So wurde deutlich, dass Puccinis Musik keine bloße tönende Untermalung eines Films ist, zu der diese Oper des Verismo so gerne herab gestuft wird. Sie ist beredt ohne die Szene, weil Puccini den Tönen genug an Theater mitgegeben hat. 

Dass Puccini die Oper mit dem Scarpia zugeordneten Motiv eröffnet macht klar, dass der Polizeichef mindestens so wichtig für die Handlung ist wie die Titelheldin. Rattle ließ diesen Beginn, leitend für die ganze Aufführung, kraftstrotzend im Ton vortragen und mit großem Pathos, aber zu Recht zwar glänzend, aber nicht wohlklingend intonieren. Diese drei Akkorde sind „zertrümmerte Musik“, denn in der mit Dreiklängen harmonisierten absteigenden Tonleiter fehlt ein Dreiklang, der erst in der Sterbeszene Scarpias nachgereicht wird. Die entwickelnde Variation dieses Motivs zum Zwecke des kompositorischen Kommentars der Handlung ist an Wagner geschult. Rattles Dirigat war nicht allein eindringlich und ließ die feinsten Klangkombinationen hörbar werden, sondern erlaubte es, diese Entwicklungen genau zu verfolgen. Seine Erfahrung mit den Partituren des Expressionismus gestattete es ihm, dort, wo es gefordert ist, hässliche Klänge zu Gehör zu bringen, so etwa, um Scarpias Brutalität auf der Bühne ihre tönende Entsprechung zu geben oder die wohl erste Folterszene der Musikgeschichte dem Hörer vorzuführen, dem nichts an Bühne fehlte, um diese Drastik mitzuerleben. 

Dass die Handlung noch durch religiöse Heuchelei vergiftet ist, verlangt noch eine weitere Ausdrucksqualität: die Darstellung von Falschheit. Der russische Bariton Evgeny Nikitin sang den Polizeichef als Verkörperung des Bösen. Der ehemalige Metal-Schlagzeuger hat Erfahrung mit der Darstellung der dunklen Gestalten der Operngeschichte. Er entschied sich in dieser Partie jedoch dazu, sie hell und kalt, aber nicht dämonisch zu intonieren. Manches geriet vor allem gegen Ende der Oper zu leise, aber so kam auch das Konstruiert-Kalkulierte im Sadismus zu Gehör. 

Tosca ist weder Erlöserin noch Retterin, wie sie das 19. Jahrhundert so gerne auf die Bühne brachte. Zu Beginn ist sie als begabte Sängerin und Geliebte Cavaradossis beruflich und privat glücklich; am Ende wird sie als Verräterin und Mörderin zum Opfer einer Intrige. Diesen Bruch in ihrem Wesen darzustellen verlangt sehr viel gesangliche Vielfalt. Die lettische Sopranistin Kristīne Opolais, die Tosca seit über 10 Jahren singt und nun ihr Debüt bei den Berliner Philharmonikern mit dieser Rolle gab, hat das Potential dazu. Sie legte das Gewicht auf das Zentrum der Oper. Im 2. Akt sang sie ihre Arie „Vissi d’arte, vissi d’amore,“ („Ich lebte für die Kunst, lebte für die Liebe“), die, von der Vergangenheit sprechend, auf der Peripetie der Handlung steht, wo das Schöne ins Gegenteil umschlägt. Tosca wird bewusst, dass ihr der Kunst und der Liebe gewidmetes Leben keine Durchsetzungskraft gegen Scarpia hat. Und dieses „Nicht-Mehr“ wusste sie hell-leuchtend und doch abgrundtief-traurig zu singen. Diesem schlichten und darum schönen Belcanto hat Scarpia den Lebensnerv abgeschnitten und von nun an die Melodie aus der Oper vertreiben. Dieses innere Sterben gestaltete Kristīne Opolais vielleicht noch ergreifender als ihren äußeren Freitod am Ende der Oper. Als sie von Scarpia gedemütigt wurde, erlosch ihr Gesang und damit ihr Leben.

Cavaradossi als der Dritte im Bunde der Sänger, die über das Gelingen einer Tosca entscheiden, war mit Stefano La Colla schlicht glücklich besetzt. Seine Arie „E lucevan le stelle“ („Und es leuchteten die Sterne“) trug er so schwärmerisch vor wie Puccini sich dies nicht anders hätte wünschen können.

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