Stellen Sie sich vor, Sie leben im Weimar oder Leipzig des frühen 18. Jahrhunderts und der Advent beginnt. Draußen ist es düster, es gibt keine Straßenbeleuchtung geschweige denn Weihnachtsschmuck. Wie jeden Sonntag gehen Sie mit Ihrer Familie in die altehrwürdige Thomaskirche. Doch heute ist etwas anders als sonst. Der Thomaskantor hat ein großes Orchester und zahlreiche Sängerinnen und Sänger auf die Empore bestellt, um seine Weihnachtsmusik zum Lobpreis Gottes aufzuführen. Wie müssen sich die Menschen damals gefühlt haben und welch überwältigendes Gefühl muss selbst die unmusikalischsten unter ihnen übermannt haben, als die ersten, überirdisch strahlenden Klänge der Geigen, Pauken und Trompeten und des jubelnden Chors sie umfingen? Wer bis dahin noch nicht an Gott geglaubt hat, der würde wohl spätestens jetzt verstehen, dass es Dinge gibt, die gewaltiger sind, als dass ein kleines Menschlein sie verstehen könnte…

Martin Haselböck, Organist, Dirigent, Festspielleiter und „unermüdlicher Verfechter ursprünglicher Klangästhetik“, wie das Programmheft ihn beschreibt, stellte sich gleich zu Beginn des Konzerts am Nachmittag des 29.11. im Münchener Prinzregententheater vor sein freudig gespanntes Publikum und erzählte von dem Gefühl, Bachs Kirchenmusik zum ersten Mal erleben zu dürfen. Genau diese Stimmung wollten Haselböck und seine Originalklangmusiker erschaffen, und sie wurde im Lauf des Abends nur noch greifbarer.

Sie eröffneten das Konzert mit der Kantate Unser Mund sei voll Lachens BWV 110, die Johann Sebastian Bach als Weihnachtskantate am 25. Dezember 1725 damals noch in Weimar uraufführte. Haselböck hatte sich entschieden, das Programm der ersten Konzerthälfte umzustellen und diese Kantate zu Anfang zu spielen, um das musikalische Feuerwerk des großartigen Gloria BWV 191 nicht gleich zu Anfang zünden. Die Musiker allerdings taten sich zunächst noch schwer, den richtigen Swing zu finden. Lag es vielleicht an der ungewöhnlichen Aufstellung des Chores, dass sich anfangs die Konzentration noch nicht so recht einstellen mochte? Haselböck hatte nämlich den Gesangssolisten jeweils an die äußeren Enden der Bühne zwei weitere Solistenchöre zur Seite gestellt, da auch zu Bachs Zeiten noch keine großen Chöre zur Verfügung standen, sondern höchstens ein bis zwei weitere solistisch besetzte Gesangsensembles auf den Emporen platziert waren. Der Klangeffekt dieser Formation ist unerhört durchsichtig und verlangt äußerste Synchronität, damit sich die Stimmen zu einem homogenen Klang mischen. Dies gelang zwar nicht immer, aber wenn es funktionierte, erzeugte es faszinierende Klarheit und Transparenz, so dass vor allem die barocken Koloraturen grandios durch den Saal perlten.

Die Gesangssolisten ließen bei ihren Arien der ersten Kantate bereits erkennen, zu welchen Leistungen sie fähig waren. Besonders Tenor Tilman Lichdi begeisterte durchwegs mit balanciert getragenen Kantilenen und gestützten Läufen. Auch bei seinen späteren Duetten mit der Sopranistin Teresa Wakim spielte er seine ganze kammermusikalische Erfahrung als Liedsänger aus. Wakim machte es ihm auch wahrlich nicht schwer, in einen musikalischen Dialog zu treten. Es war besonders schön anzusehen, wie charmant sie den Kontakt zu ihren Mitmusikern und dem Publikum suchte und mit koketten Augenaufschlägen ihre Freude an der Musik teilte, aber auch interpretatorisch wurde sie ihrem Ruf als „die perfekte Stimme früher Musik“ (Cleveland Classical) gerecht. Der erkrankte Bassist Georg Nigl wurde vom Bass-Bariton Robert Davies würdig ersetzt, welcher sich später in einen der Solistenchöre einreihte.

Die Sinfonia zur Kantate Wie müssen durch viel Trübsal BWV 146, die auf Motiven des Cembalokonzerts in d-Moll BWV 1052 fußt, läutete den zweiten Teil des Abends ein Der südafrikanische Organist Jeremy Joseph hatte bereits in der ersten Konzerthälfte seine Continuo-Qualitäten bewiesen und spielte nun mit wohldosierter Virtuosität den Solopart der Sinfonia auf der Truhenorgel. Teils eilte er ein wenig zu gehetzt durch die diffizilen Sechzehntel-Passagen, so dass das Orchester kaum folgen konnte, insgesamt aber fand er die sichtliche Anerkennung des Orgel-Großmeisters Haselböck und seiner Zuhörerschaft.

Im folgenden berühmten Magnificat für Soli, Chor, Orchester und Basso continuo in D-Dur BWV 243 übernahm der Spezialist für Alte Musik William Gaunt die Basspartie mit seinem warmen, erdigen Oratorien-Bass. Zudem gesellte sich die australische Sopranistin Miriam Allan zu den Gesangssolisten und ergänzte das Klangspektrum mit ihrem klaren und bissfesten Sopran. Bei Allans Arien konnte man sich entspannt zurücklehnen, wurde an der Hand genommen und souverän durch ihre Deutung der Stücke geführt. Dies gelang dem gefeierten Countertenor Daniel Taylor nicht immer, da er an diesem Abend etwas unkonzentriert und stimmlich nicht ganz auf der Höhe war, was aber nicht weiter störte. Von Martin Haselböck sensibel geführt spielte und sang die Wiener Akademie & Consort und das von David Clegg gegründete Vokalensemble Aurum Vocale mit hinreißender Musizierfreude. Wenn auch einige Passagen nicht hundertprozentig synchron waren, fanden doch die Musiker immer schnell wieder zusammen. Viel zu schnell war das Konzert vorüber, und sein Höhepunkt, eine perfekten Zugabe des Chorals Jesu bleibet meine Freude, schickte das beschwingte Publikum in den frostigen Adventsabend.

****1