Die Stunde der Wahrheit für Opernausgrabungen schlägt, wenn die Premierenfeiern gefeiert sind und das seltene Werk sich im Repertoire beweisen muss: Bei der Wiederaufnahme von Nikolay Rimsky-Korsakows Zarenbraut an der Staatsoper Berlin sind zwar die Reihen ordentlich gefüllt, doch von einem berstend vollen Haus, wie es diese bei ihrer Premiere 2013 umjubelte, nun zum siebten Mal zu erlebende Inszenierung eines außerhalb Russlands seltenen Opernjuwels verdient hätte, kann nicht die Rede sein.

Dass Rimsky-Korsakows 1899 uraufgeführtes Werk (die neunte seiner 15 Opern!) nicht gerade an die Tür zur Moderne klopft, dürfte eigentlich kein Hindernis für einen breiten Erfolg beim Opernpublikum darstellen. Eher im Gegenteil: Mit ihrer stets melodischen Haltung, langen kantablen Linien und vielen Da-capo-Arien, Duetten bis Quintetten und üppigen Chören lockt die Musik auf vertrautes Terrain und bietet dazu eine Menge russisches Lokalkolorit, auch ohne direkte volksmusikalische Zitate. Fern ist die archaische Wucht Mussorgskys, bei Rimsky-Korsakow dominieren Farbenpracht und an Berlioz erinnernde, höchste Instrumentationskunst. Wer nur einmal in diese Musik hineinhören will, könnte beim meisterhaften 4. Akt beginnen; dann wird er auch den Rest kennen wollen.

Dass das Drama um Leidenschaft, Eifersucht und Intrigen mit seinen Liebespulvern und Gifttränken durchaus ins Hanebüchene kippt, kommt dem Opernfreund aus so manch anderem Lieblingswerk sicher bekannt vor, macht also nichts. Die entscheidende, unheimliche Facette der Handlung stellt die allem folkloristischen Firlefanz entsagende Inszenierung von Dmitri Tcherniakov geglückt ins Licht: Der omnipräsente, aber niemals leibhaftig auftretende Hintergrunddämon Iwan der Schreckliche, dessen tyrannische Brautsuche die verwickelten Moskauer Liebeshändel im Jahr 1571 durcheinanderwirbelt und schließlich tödlich erschüttert, ist hier ein digitaler Homunkulus, der über diverse Bildschirme und Leinwände geistert.

Dieser von unsichtbaren Gehirnen und mysteriösen Programmen ersonnene Zaren-Bot trägt mal Business-Anzug, mal traditionelle russische Tracht, winkt von hohen Bergen und schreitet nachdenklich durch sonnige Kornfelder. Tcherniakovs Regie wurde 2013 von einigen Kritikern eine unpolitische Haltung attestiert; aber ich bin gewiss nicht der einzige Besucher, den dieser vielseitige Avatar, auch ohne dass er mit freiem Oberkörper durch die Lande ritte, an Väterchen Putin erinnert. Dass dieser Bezug unkonkret bleibt, scheint mir keine Schwäche zu sein, sondern macht den Interpretationsansatz über Tagesaktualitäten hinaus wertvoll. Mit selbstgefälligen und belanglosen Reverenzen ans Internet wie man sie mitunter erlebt hat er zum Glück nichts zu tun.

Konkret in Gang gesetzt wird die Handlung von einem liebeskranken Unterdämon, dem korpulent-schmalzlockigen Bojaren Grjasnoj, dem man keinen Gebrauchtwagen abkaufen würde, dunkel und mit Tendenz zum angemessen gruseligen Quetschen gesungen vom aserbaidschanischen Bariton Evez Abdulla. In den Hauptrollen steht nicht mehr die Premierenbesetzung auf der Bühne, aber auch diese Sängerriege ist erste Wahl, allen voran die beiden weiblichen Hauptfiguren: Die allseits geliebte junge Marfa, mit einem freundlichen Tenortrottel verlobt, vom Zarendämon auserwählt, vom Bojaren heiß begehrt und schließlich versehentlich vergiftet – gesungen mit frischem, glockenhell die Höhe erreichenden Sopran von Elena Tsallagova. Die gebürtige Kaukasierin studierte bei Ileana Cotrubas und ist nun Ensemblemitglied der (noch) benachbarten Deutschen Oper; überragend ihre zwischen Lyrik und Verzweiflung schwankende Wahnsinnsarie im letzten Akt, mit innigem Pianissimo und großer Wärme gesungen und noch im Zerbrechen sicher phrasiert.

Die packendste Gestalt des Dramas ist jedoch zweifellos ihre unglückliche Rivalin Ljubascha (nomen est omen, любить (ljubit) bedeutet lieben), Grjasnojs einst gewaltsam eroberte, nun verschmähte Geliebte: Die großartige Mezzosopranistin Marina Prudenskaya beherrschte die Bühne mit technisch perfekter Expressivität, durchaus phonstark in den Höhen, gelegentlich bis an die Schmerzgrenze und mit gezielten exklamatorischen Ausbrüchen, dabei in der Tiefe stets klangvoll - eine hochdramatische Passion, der sich kein Hörer entziehen konnte.

Auch die weitere Besetzung, wie Prudenskaya aus dem Ensemble der Staatsoper oder dem Haus langjährig verbunden, war durchweg überzeugend: Der tschechische Tenor Pavel Černoch war ein Mitleid erregender Verlobter ohne Durchblick, der schließlich sogar im Off sterben muss, aber im 1. Akt eine kuriose Arie über das Wesen der Deutschen singen darf. Der deutschstämmige Giftmischer-Arzt und Sex-Erpresser Bomelius, den der Tenor Stephan Rügamer sinister verkörperte, ist eine weitere interessante Figur aus dem Arsenal der faszinierend-abstoßenden Deutschen in der russischen Kunst des 19. Jahrhunderts (man denke an Gontscharows Versager Oblomov, der sich in seinem grässlich perfekten deutschen Jugendfreund spiegelt). Ob Anatoli Kotscherga als Zarenbrautvater Sobakin, Tobias Schabel als Zarenbüttel Skuratow, die prachtvolle Irina Rubtsova und Anna Lapkovskaja als Mutter und Tochter Saburova: der Glücksfall einer Sängerriege ohne jeden Ausfall.

Auf gleichem Niveau das Orchester: jedes Solo eine Freude, wie gegossen der Tuttiklang der Staatskapelle, die Daniel Barenboims rechte Hand Alexander Vitlin dicht am Klangideal des Chefs, nur präziser und detailgenauer leitete. Auch der Chor war ausgezeichnet; nur einmal hechelte er im 1. Akt dem Orchester nach – Mäkelei am Rande eines großen Opernabends.

Nur eine Frage lässt diese Aufführung unbeantwortet: Warum gehört diese Oper nicht längst zum gängigen Repertoire? Dreimal gibt es im April noch Gelegenheit, die Zarenbraut kennenzulernen.

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