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The Best of All Possible Satires: Candide erstrahlt am MusikTheater an der Wien

Von , 20 Januar 2024

Die Neuinszenierung von Candide am MusikTheater an der Wien ist eine schillernde Feier von Leonard Bernsteins vielfältigen musikalischen Idiomen. Unter der fantasievollen Regie von Lydia Steier stellt sich die Produktion der Herausforderung eines genreübergreifenden Werks, das Elemente des Broadway-Musicals, der komischen Oper und der europäischen Musiktradition nahtlos miteinander verwebt. Steiers Bühne ist eine lebendige Leinwand, die zwischen Puppentheater, nostalgischer Vaudeville-Ästhetik und extremem Camp oszilliert. Jede Szene ist ein visueller Wandteppich, der von stylishen Tanznummern, die an den alten Broadway erinnern, bis hin zu provokant trashigen Elementen reicht und eine faszinierende Melange von Theaterstilen schafft.

Ben McAteer (Pangloss), James Newby, Nikola Hillebrand, Matthew Newlin und Tatiana Kuryatnikova
© Werner Kmetitsch

Diese ungewöhnliche Inszenierung von Candide hilft dabei, die Komplexität der Handlung, die lose auf Voltaires Satire beruht, zu durchschauen. Die Geschichte, eine boshaft-satirische Antwort auf den Optimismus der Aufklärung, folgt dem naiven Candide auf einer verhängnisvollen Reise durch eine Welt voller Katastrophen, Kriege und menschlicher Grausamkeit. Steier versteht es, eine verdrehte, märchenhafte Atmosphäre aufrechtzuerhalten und selbst die dunkelsten Momente mit einem skurrilen Charme zu versehen.

Vincent Glander (Erzähler), Matthew Newlin (Candide) and Nikola Hillebrand (Kunigunde)
© Werner Kmetitsch

Das Bühnenbild von Momme Hinrichs verleiht dem Stück eine zusätzliche Ebene der Theatralik. Ein stufenförmiger Aufbau mit beleuchteten Rahmen erinnert an den Broadway, und die hellen, aus Pappe ausgeschnittenen Kulissen tragen zu einer visuell beeindruckenden Inszenierung bei, die das Publikum ständig daran erinnert, dass es sich im Theater befindet. Szenen mit tanzenden Kriegsveteranen, schwebenden Staatsoberhäuptern in orangefarbenen Schwimmwesten, einem alten Mann, der die Syphilis feiert, Kunigundes „Glitter and Be Gay”, das als Gangbang neu interpretiert wird, mörderische Geistliche, die tanzen, während Leichen aufgehängt werden, glitzernde Toreros in Unterhosen, die mit der Jungfrau Maria geschmückt sind (Kostüme von Ursula Kudrna)... jedes visuelle Tableau ist fabelhaft – und grotesk – unwiderstehlich!

Nikola Hillebrand (Kunigunde) und Ensemble
© Werner Kmetitsch

Candide war Bernsteins Sorgenkind und die erste Aufführungsserie am Broadway war nur von kurzer Dauer. Er überarbeitete die Musik, die Struktur und das Libretto mehrfach mit Hilfe einer ganzen Reihe von Helfern, darunter Stephen Sondheim, John LaTouche, Dorothy Parker, Lillian Hellman und John Wells. Auch wenn es kein perfektes Werk ist (in der zweiten Hälfte verliert es völlig den Faden), hat Steier eine freche, frische Interpretation geschaffen. Sie scheut sich nicht vor den Herausforderungen, die das Stück mit sich bringt, sondern nimmt sie mit Enthusiasmus an und schafft ein Theatererlebnis, das Bernsteins stilistischer Flexibilität Tribut zollt und die Satire auf eine neue Ebene hebt.

Mark Milhofer (Vanderdendur), Vincent Glander (Erzähler), Tänzer mit dem Arnold Schoenberg Chor
© Werner Kmetitsch

Musikalisch stehen zwei Filmstars der Gegenwart im Mittelpunkt. Nicht nur lief Maestro dieses Jahr Gefahr, alle Preise abzuräumen (sorry, Bradley), sondern auch Marin Alsop (Star des Dokumentarfilms The Conductor, nicht Tár), Protegé von Bernstein, war herausragend. Sie navigierte das ORF Radio-Symphonieorchester Wien, das noch nie so gut geklungen hat, nahtlos und in einem dynamischen Tempo durch die schwierige musikalische Landschaft von Candide und wechselte dabei blitzschnell zwischen Melodie, Operette, Fandango und Strawinsky. Trotz der schwierigen akustischen Bedingungen in der Halle E erklingt Bernsteins Musik mit Brillanz.

Matthew Newlin (Candide) und Tänzer
© Werner Kmetitsch

Die Darsteller lieferten außergewöhnliche Leistungen. Bernstein bietet seinem Protagonisten keine aufsehenerregenden Nummern, aber Matthew Newlin hat Candides Jugend und Naivität mit seinem wunderschönen Tenor und seiner Fähigkeit, eine Linie zu halten, ideal eingefangen, während Nikola Hillebrand als Kunigunde absolut glänzte, vor allem in ihren provokanteren Szenen, in denen sie ihre spektakulären Koloraturen und ihre Unerschrockenheit zur Schau stellen konnte. Der gesamte Abend wurde von Vincent Glander, dem urkomischen Erzähler, zusammengehalten. Helene Schneiderman brillierte in der Rolle der Alten Frau, ebenso wie Ben McAteer in der Doppelrolle des Dr. Pangloss und des Martin. Es gab kein schwaches Glied in der Truppe, und in den vielen Gruppenszenen wurden der Arnold Schoenberg Chor sowie eine wahre Flotte von Nebenfiguren und Tänzern von Tabatha McFadyen perfekt choreographiert und hielten die Energie auf einem Maximum.

Vincent Glander (Erzähler), Matthew Newlin (Candide) und Ensemble
© Werner Kmetitsch

Dank Steiers kühner Regieentscheidungen, eines kreativen Bühnenbilds, einer hervorragenden Besetzung und Alsops meisterhafter Orchesterleitung ist Candide vom MusikTheater an der Wien ein Muss. Was Bernsteins Patchwork-Stil anbelangt, ist es die Best of All Possible Satires.


Ins Deutsche übertragen von Elisabeth Schwarz

*****
Über unsere Stern-Bewertung
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“jedes visuelle Tableau ist fabelhaft – und grotesk – unwiderstehlich”
Rezensierte Veranstaltung: MuseumsQuartier Wien: Halle E, Wien, am 19 Januar 2024
Bernstein, Candide
MusikTheater an der Wien
Marin Alsop, Musikalische Leitung
Lydia Steier, Regie
Momme Hinrichs, Bühnenbild
Ursula Kudrna, Kostüme
Elana Siberski, Licht
ORF Radio-Symphonieorchester Wien
Arnold Schoenberg Chor
Kai Weßler, Dramaturgie
Matthew Newlin, Candide
Nikola Hillebrand, Kunigunde
Ben McAteer, Doctor Pangloss, Martin
James Newby, Maximilian
Helene Schneiderman, Die alte Frau
Tatiana Kuryatnikova, Paquette
Mark Milhofer, Captain, Gouverneur, Vanderdendur, Inquisitor
Lina Lottes, Cacambo
Erwin Ortner, Chorleitung
Tabatha McFadyen, Choreographie
Vincent Glander, Erzähler*in
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