Mit Inszenierungen in Paris, Wien und Antwerpen in den letzten Spielzeiten mag Chowanschtschina außerhalb Russlands nicht länger als Rarität gelten, doch die Oper bleibt ein einschüchterndes Werk, für das Publikum wie das künstlerische Team, wegen seiner schieren Länge, der Unmenge an Figuren und der fragmentierten, politischen Handlung. Christof Loys aufgeräumte Inszenierung für die Nederlandse Opera hat den Vorteil, dass sie diese Handlung klarstellt. Sie lässt dem Zuschauer zudem viel Raum, um sich auf Mussorgskys mutige Musik zu konzentrieren (hier gespielt in Schostakowitschs Orchestrierung und Ende). Ingo Metzmacher leitet den Chor der Oper, ein sehr gutes Ensemble von überwiegend slawischen Solisten und das Niederländische Philharmonische Orchester in einer fesselnden Vorstellung.
Basierend auf historischen Ereignissen, die sich über drei Jahrzehnte erstrecken, erzählt Chowanschtschina (übersetzt etwa „Die Sache Chowanski“) den Zusammenstoß von fortschrittlichen und reaktionären Fraktionen Russlands am Ende des 17. Jahrhunderts. Auf der einen Seite repräsentieren Wassili Golizyn und Fjodor Schaklowity das Reformlager des jungen Zaren Peter und seiner Halbschwester und Regentin Sofia Alexejewna, das drängt, Russland zur Verwestlichung drängt. Auf der anderen Seite widersetzen sich zwei sehr verschiedene Kräfte diesen Veränderungen: die Strelitzen und die Altgläubigen. Letztere sind eine von der russisch-orthodoxen Kirche abgespaltene Bewegung, die sich den 1666 von Nikon eingeführten Reformen widersetzt hatte, die russische Liturgie wieder an der griechischen Orthodoxie auszurichten. Ihr Anführer in der Oper ist Dossifei und auch die Wahrsagerin Marfa ist eine von ihnen.
Die Strelitzen (gelegentlich auch als „Musketiere“ übersetzt, da sie Waffen tragen) sind eine rauflustige Miliz der Elitegarde, hauptsächlich von altem, russischem Adel, doch am Ende des 17. Jahrhunderts überwiegend ausgemustert und über ihren Zenit hinaus. Sie werden vom Bojaren Iwan Chowanski angeführt, der – nachdem er Sofias Regentschaft unterstützt hat – Gerüchten zufolge nun rebelliert, vermutlich, um seinen eigenen Sohn Andrei auf den Thron zu bringen. Chowanski wird schließlich von Schaklowity ermordet; Golizyn wird entehrt und für seine Verbindung zu ihm ins Exil geschickt. Die Strelitzen werden zusammengetrieben und verhaftet. Als sie zu ihrer Hinrichtung geführt werden, verkündet ein Bote, dass der Zar sie begnadigt hat. Die Altgläubigen erwartet ein weniger glückliches Los: als sie erkennen, dass der Aufstand zerschlagen wurde, versammeln sie sich in einem abgelegenen Kloster im Wald und Dossifei führt Marfa, Chowanskis Sohn Andrei und alle anderen Altgläubigen in den Massensuizid auf einem Scheiterhaufen.
Christof Loys Inszenierung scheut die historischen Ursprünge der Handlung nicht vollends. Während des prächtigen Vorspiels öffnet sich der Vorhang für ein Tableau vivant, das Wassili Surikows Gemälde Der Morgen der Hinrichtung der Strelitzen nachstellt (Surikow war Zeitgenosse Mussorgskys). Abgesehen vom Ende ist dieses Tableau der einzige visuell spektakuläre Moment der Vorstellung. Schnell legen Figuren ihr historisches Kostüm zugunsten moderner Bekleidung ab (meist Geschäftsanzüge für die Männer, Neureichen-Partykleider für die Damen) und beginnen, ihre Rollen in einem zeitlosen Polit-Drama einzunehmen. Johannes Leiackers Bühnenbild ist oft minimalistisch bis zum Extrem – der gesamte zweite Akt wird vor einem plan-weißen Hintergrund gespielt; ein Stuhl und ein Tisch sind die einzigen Requisiten – doch ich fand, dass diese Abwesenheit von visuellen Stimuli einen dazu zwingt, sich wirklich auf die Bewegungen der Figuren und des Chores auf der Bühne zu konzentrieren, was half, die Handlung und ihre Entwicklung zu verdeutlichen.
Ohne auch nur eine Figur, die eine andere erlöst ist des ein gänzlich pessimistisches Werk. Man könnte versucht sein, von düster zu noch düster zu gehen, nicht so jedoch Ingo Metzmacher. Er leitete das Niederländische Philharmonische Orchester in einer inspirierten Aufführung voller subtiler Klangfarben. Chowanschtschina enthält einige der ergreifendsten Chorpassagen in russischer Oper und der Chor der Niederländischen Nationaloper gab eine Interpretation von höchster Qualität.
Die Produktion trumpft mit einem Ensemble auf, das stark ist bis in die kleinsten Rollen. Tenor Andrei Popov mochte nicht das angenehmste Timbre gehabt haben, bestach jedoch mit Charakterdarstellung als Schreiber. Die Sekundärrollen der Emma und Susanna waren mit Svetlana Ignatovich und Olga Savova luxuriös besetzt; Dmitry Ivashchenko (Iwan Chowanski) wurde zu Beginn der Vorstellung als erkrankt angekündigt, trat aber trotzdem auf (der dicke Fellmantel seiner Rolle kann mit Fieber kaum angenehm sein) und beeindruckte mit seinem edlen Ton, und man fragte sich wozu er wohl fähig sein würde, wenn er sich erholt hat. Der Tenor Maxim Aksenov sang mit einer Rohheit, die zu Andrei Chowanskis lustgetriebenem Charakter passte.
Gábor Bretz' pechschwarzer Bass als bedrohlicher Schaklowity war wunderbar in der Arie „Das Strelitzennest schläft“. Orlin Anastassov mangelte es meiner Meinung nach an Gravitas, um in der Rolle des Anführers der Altgläubigen Dossifei wirklich zu überzeugen, doch sein dunkler Klang ist zweifelsohne ansprechend. Kurt Streit sang und spielte intensiv als aufgewühlter Golizyn; Anita Rachvelishvili verband packende Bühnenpräsenz mit ausgezeichneter Gesangsleistung, zeigte eine breite Palette an Farben sowie superbe dynamische Kontrolle und erntete stürmischen Beifall für ihr unvergesslichesn Portrait der Marfa.
Aus dem Englischen übertragen von Hedy Mühleck.