Konfrontiert mit der Wahl, die Liebe seines Lebens zu zerstören, oder den Verlust der Familienehre anzunehmen, wie sollte sich ein Mann verhalten? Rodrigues Dilemma, verursacht von einer tödliche Beleidigung seines Vaters durch seinen Schwiegervater in spe, bildet die Basis von Pierre Corneilles Le Cid, entstanden 1637 und eines der großen Werke des klassischen französischen Dramas. Das Libretto für Massenets Oper übernimmt viele von Corneilles Versen direkt, und obwohl es kein Libretto für Puristen ist – dafür gibt es darin viel zu viel Belle Époque-Kitsch – scheint doch die Eleganz der berühmten Alexandriner durch, an diesem Abend im Palais Garnier, wo die Oper 1885 uraufgeführt wurde.
Ganz besonders schien die Lyrik durch in der Stimme und der Gestik von Roberto Alagna, der der Rolle des Rodrigue jugendlichen Stolz und Ungestüm verlieh. Alagnas Diktion ist makellos und gibt den Versen einen besonderen Glanz; er formt seine Phrasen wunderschön, und das Grundtimbre seiner Stimme ist sehr ansprechend. Wenn er zunächst etwas Zeit brauchte, um warm zu werden, so brannte er am Ende: In seiner großen Auftrittsarie, dem Lobgesang an sein Schwert „Ô noble lame étincelante” gab es einige angestrengte hohe Töne, doch als dieses Tribut am Ende der Oper wiederholt wurde, sandte er diese Töne mit völliger Überzeugung ins Auditorium.
Die zweite denkwürdige Gesangsdarbietung des Abends gab Paul Gray als Rodrigues Vater Don Diègue (der durch sein Fordern von Mord, um seine Ehre zu retten, die ganzen Probleme erst verursacht hat). Gay bot hochkarätigen Bassgesang, jeder Ton war konzentriert, hart, trieb die Handlung voran. In der Rolle von Rodrigues Verlobter Chimène hörte man Sonia Ganassi, deren dunkler Mezzo die Tendenz hatte, alle Konsonanten zu glätten. Ich bin mir nicht sicher, dass sie darin offensichtlich in das passt, was eigentlich eine Sopranrolle ist, wenn man bedenkt, dass Chimène die Oper als sorgloses, flatterhaftes junges Ding beginnt. Die Konfrontation zwischen ihr und Alagna im dritten Akt jedoch, nachdem Rodrigue Chimènes Vater im Duell getötet hat, war elektrisierend.
Le Cid steht und fällt mit seinen großen Konfrontationsszenen, zwischen Rodrigue und Chimène, zwischen Diègue und Chimènes Vater, dem Comte de Gormas, zwischen dem König und so ziemlich jedem, und, vielleicht am wichtigsten, zwischen Rodrigue und seinem Gewissen. Jede dieser Szenen wurde mit immenser Wucht dargeboten, besonders die, an denen der Chor beteiligt war, der eine glühende Begleitung beisteuerte. Der chortechnische Höhepunkt kam im zweiten Akt, wenn der König von zwei Fraktionen umgeben ist, die beide ihre gegensätzlichen Ansichten von Gerechtigkeit einfordern. Der Chor schuf Chaos auf eine Weise, wie ich es noch nie außerhalb der Versammlung der Gibichungen in der Götterdämmerung gesehen habe. Die Vorstellung, dass ein Schlag ins Gesicht eines Mordes zur Vergeltung bedarf mag im 21. Jahrhundert fremd erscheinen; zu Corneilles Zeiten aber war es völlig normal, lag auch zu Massenets Zeit noch nicht so lange zurück, und in dieser Vorstellung ließ die Dramatik in Wort und Musik diese Konfrontationen alles, aber nicht veraltet erscheinen. Eine Bemerkung am Rande: Das letzte offizielle Duell in Frankreich fand im Übrigen 1967 statt.