Le nozze di Figaro hatte schon immer eine pointierte, politische Dimension, die die Autorität der herrschenden Klassen in Frage stellte. Die Dienerschaft überlistet eine Aristokratie, die im Begriff ist, ihre Macht zu verlieren. Aber hat das Stück auch eine dunkle Seite? Martin Kušej sieht das in seiner düsteren, überzeugend gespielten Neuinszenierung von Mozarts und Da Pontes Komödie für die Salzburger Festspiele auf jeden Fall so, also erwarten Sie nicht viele (oder gar keine) Lacher an diesem „folle journée”. 

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Andrè Schuen (Graf Almaviva) und Sabine Devieilhe (Susanna)
© SF | Matthias Horn

Die Handlung scheint eher in Italien als in Sevilla stattzufinden – Kušej interpretiert Figaros Anspielungen auf „il padrone” in einem sizilianischen Sinne – und Andrè Schuens stattlich gesungener Graf Almaviva ist ein bewaffneter Mafiaboss. Seine erste Tat ist es, jemanden zu erschießen. Ist Krzysztof Bączyks Galgenvogel Figaro sein Handlanger? Es ist Manuel Günthers Don Basilio, ein widerlicher Kleriker, der für die Beseitigung der Leichen zuständig ist. 

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Ouvertüre
© SF | Matthias Horn

Alle Figuren in Kušejs Welt sind auf der Flucht vor etwas oder jemandem, möglicherweise vor sich selbst. Während der Ouvertüre suchen sie Trost in Alkohol oder Drogen. Alle außer Lea Desandres hypnotisierendem Cherubino, der sich in einer Welt der Liebe verliert und fieberhaft Gedichte in sein Notizbuch schreibt. Er ist der zentrale Punkt der Inszenierung, die einzige Figur, die es wert ist, dass man sich für sie interessiert. Die Gräfin, Susanna und Barbarina sind ganz vernarrt in ihn, und niemand – unabhängig von Alter und Geschlecht – kann ihn ignorieren. Alle sind berauscht von diesem Cherubino. 

Adriana González (Gräfin), Sabine Devieilhe (Susanna) und Lea Desandre (Cherubino) © SF | Matthias Horn
Adriana González (Gräfin), Sabine Devieilhe (Susanna) und Lea Desandre (Cherubino)
© SF | Matthias Horn

Raimund Orfeo Voigts Bühnenbilder sind kalt - Badezimmer, Betonkeller, Parkhaus - und spiegeln die Kälte der Interaktionen wider. Sind Figaro und Susanna jemals verliebt? Sie ertränken ihre Sorgen in einer Bar und stehen sich nicht einmal gegenüber. Sie fühlt sich viel mehr zum Grafen hingezogen, auch wenn Sex nur ein Geschäft ist. Es ist eine gewalttätige Welt. Bartolo verbrennt belastende Dokumente während Susannas zickigem Streit mit Marcellina. Basilio verprügelt Cherubino während Figaros „Non più andrai” und schlägt sein Gesicht in ein Fenster, an das bereits stumme Jungfrauen während des Lobgesangs auf ihren Meister Blut geschmiert haben. Antonio wird als Geisel in einem Keller festgehalten, sein Mund ist zugeklebt. Häufige Blackouts und Pausen zwischen den Szenen bringen die Handlung völlig zum Erliegen.

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Sabine Devieilhe (Susanna) und Krzysztof Bączyk (Figaro)
© SF | Matthias Horn

Das Libretto von Lorenzo Da Ponte sorgt für einige Lacher – auch wenn auf der Bühne nichts wirklich Lustiges passiert. Der einzige echte Lacher der Inszenierung kommt, als Susanna in die Badewanne springt, um sich vor dem Grafen zu verstecken, und mit Schaum bedeckt wieder herauskommt. Die Silent-Disco zu Mozarts Fandango bei der Hochzeitsfeier auf dem Parkplatz ist eine nette Idee, aber die komischen Momente sind eher gering. Die Enthüllung von Figaros wahrer Abstammung wird in der Bar als betrunkener Piss-Take gespielt, während das Finale des zweiten Akts ins Alberne abgleitet, als jeder mit einer Schusswaffe herumfuchtelt, Basilio zieht ein Maschinengewehr aus seinem Gitarrenkoffer. Bartolo zündet sich mit seiner „Waffe” eine Zigarre an. Sind Kušejs Figuren real oder spielen sie einfach nur Gangster?

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Sabine Devieilhe (Susanna) and Krzysztof Bączyk (Figaro)
© SF | Matthias Horn

Musikalisch war die Aufführung oft hervorragend. Raphaël Pichon, der die Wiener Philharmoniker wie ein volles Symphonieorchester und nicht wie ein aufgemotztes Pygamlion behandelte, dirigierte eine satte, kraftvolle Wiedergabe der Partitur, die Hörner brüllten herrlich, die Klarinetten waren köstlich in „Porgi amor”. Schuen sang den Grafen souverän – man kann hören, warum Susanna sich zu ihm hingezogen fühlt –, aber Bączyks Figaro war schwerfällig und es fehlte ihm an Charisma. Dass Kušej Figaro wütend in das Gesicht des Grafen schreien lässt, ist ein Fehltritt; wenn man einen Mafiaboss so missachtet, würde Figaro mit den Fischen schlafen. 

Die Frauen waren durchweg stark. Als Gräfin sang Adriana González wunderschön in ihren beiden Arien, in denen Kušej ihr Zeit und Raum gibt, ihre Isolation auszudrücken, indem sie in „Dove sono” über Gustave Courberts intimes Gemälde L'Origine du monde sinniert, während ihre Doppelgängerin ein Bad nimmt. Das da capo von „Porgi amor” wurde gespenstisch langsam und mit gedämpfter Dynamik vorgetragen. Desandre sang einen exquisiten Cherubino, ihr hoher Mezzo war in beiden Arien wunderbar geschmeidig, ihre Bühnenpräsenz magnetisch.

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Sabine Devieilhe (Susanna) und Andrè Schuen (Graf Almaviva)
© SF | Matthias Horn

Sabine Devieilhe war eine großartige, stimmgewaltige Susanna, die ein schmelzendes „Deh vieni non tardar” in einer enttäuschenden Gartenszene sang, in der Kušej das Interesse völlig verloren zu haben scheint. Er endet damit, dass der Graf eiskalt fünf der Übeltäter mit verbundenen Augen aufstellt und sich anschickt, den Abzug zu betätigen, als die Gräfin auftaucht und es einen plötzlichen Aufschub der Hinrichtung gibt, gefolgt von einer nichtssagenden Entschuldigung und dem Ausbleiben jeglicher Freude.

Figaro hat seine bitteren – und bittersüßen – Momente, aber Kušejs Inszenierung hinterlässt einen üblen Geschmack im Mund.


Ins Deutsche übertragen von Elisabeth Schwarz.

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