Es gibt dieses wunderbare Gemälde eines alternden Leo Tolstoys in bäuerlicher Kleidung von Ilya Repin. Nachdem er seinen aristokratischen Lebensstil aufgegeben hatte, passte der großartige Schriftsteller nicht nur seinen Kleidungsstil an, sondern arbeitete auch gemeinsam mit seinen Arbeitern auf seinem Anwesen, pflügte die Felder, hielt deren Häuser in Stand. Dmitri Tcherniakoys Darstellung des Zaren Barendej in seiner Neuinszenierung der Oper Schneeflöckchen erinnerte mich an dieses Gemälde. Sein Zar ist kein ferner Herrscher, er ist der Anführer einer Kommune, die versucht die alten Zeiten wieder herzustellen. Rimsky-Korsakows Oper ist eine großartige Hymne auf die Natur und Tcherniakov fängt diesen Geist gänzlich ein.

Seine Inszenierung beginnt leicht ungewiss. Sechzehn Jahre zuvor hatten König Frost (körniger Bass Vladimir Ognovenko)  und die Frühlingsfee (Mezzosopranistin Elena Manistina) eine gemeinsame Tochter – Schneeflöckchen (oder Snegurotschka). Die gegensätzlichen Jahreszeiten liegen im Streit und so hatte Frost das Kind großgezogen, welches kalt und unfähig ist zu lieben. In Tcherniakovs Prolog ist die Frühlingsfee eine Lehrerin, die mit ihren kleinen Schützlingen ein lustiges Lied und einen Tanz verkleidet als Vögel probt, als Frost sie unterbricht und ihr von seinem bevorstehenden Aufbruch in den Norden berichtet. Die Schul-Kulisse ist eng und so werden Ognovenko und Manistina oft vom Orchester verschluckt. Als sie sich dazu entschließen, dass Snegurotschka von nun an im bäuerlichen Berendei leben wird, öffnet sich das Bühnenbild zu einer eindrucksvoll realistischen Waldszene, wo die restliche Handlung der Oper spielt. Die Stimmen klangen um einiges freier in dieser Akustik.

Die Berendeis leben in kleinen zwischen den Bäumen versprenkelten Hütten, abgesehn von Bobil und dessen Frau Bobilika (Snegurotschkas Adoptiveltern), die in einem zwielichtigen Wohnwagen hausen. Es wird das Frühlingsfest Maslenitsa gefeiert, um den Winter zu verabschieden. Zar Barendej wird gepriesen, während er an seiner Staffelei sitzend malt. Später sehen wir ein Abbild Maslenitsas, bevor sie als Teil der Frühlingsrituals verbrennt wird. Tänzer – nur mit Blumenkränzen am Kopf bedeckt – springen und frohlocken zwischen den Bäumen. Der Wald wird von Gleb Filshtinsky zauberhaft beleuchtet – von Sonnenstrahlen, die sich durch das Dickicht kämpfen, bis zu einer schimmernden Mondlichtszene, in der Snegurotschka vor den amourösen Annäherungsversuchen Misgirs flüchtet. Als Snegurotschka die Frühlingsfee bittet sie zu befähigen zu lieben, dreht sich Tcherniakovs Bühne in atemberaubend hinreißender Weise zweimal in umgekehrter Richtung.

Aida Garifullina, die ihre Debut an der Opéra de Paris gab, feierte einen großen Triumph als Snegurotschka, ihr heller glockengleicher und kristallklarer Sopran, und ihre Darstellung eines gequälten Mädchens, das versucht zu lieben, waren durchwegs berührend. Sie formte Phrasen kalt wie Marmor und – falls man es denn sagen darf – brachte Herzen zum Schmelzen. Martina Serafin kräftiger Sopran war als Beinahe-Braut Kupawa ein gewichtiger Gegensatz zu Garifullina, verlassen vom reichen Kaufmann Misgir, sobald dieser ein Auge auf Snegurotschka geworfen hatte. Als gefeierte Tosca, hatte sie sicherlich die notwendigen Dezibel, um ihrem Zorn Ausdruck zu verleihen.

Rimsky-Korsakov schrieb die Rolle des Lel, der Hirte, dessen Lieder Snegurochka verzaubern, für Mezzosopran. Tcherniakov besetzte, durchaus kontrovers, die Rolle mit einem Countertenor, die Yuriy Mynenko als langhaariger Liebesgott souverän ausfüllte. Die drei Lieder Lels sind dünn besetzt, mit einigen Klarinetten und Englischhörnern, die die Hirtenflöte nachahmen, und so musste Mynenko nur selten gegen eine große Orchestrierung ankommen, sein eindrucksvolles Timbre klang wie aus einer anderen Welt.

Thomas Johannes Mayer als Misgir eine Enttäuschung, sein Bariton grob und verbraucht. Leider fehlte hier der so notwendige Glamour eines Dmitri Chworostowskis. Nie glaubt man, dass Snegurotschka tatsächlich in ihn verliebt sei; und auch Tcherniakov selbst glaubt es nicht, der sie ihre letzten Liebesworte, als sie dahinschmilzt, an Lel richten lässt. Elena Manistinas kräftiger Mezzo war in der Waldszene überaus überzeugend, während Maxim Paster (der kurzfristig für Ramón Vargas eingesprungen war) in den vom Zaren Barendejs erforderten hohen Tessitura durchdringend sang. Franz Hawlata war als Barendejs Bojar eine Traumbesetzung.

Der Chor gab eine überzeugende, basslastige Darstellung eines russischen Chors. Mikhail Tatarnikov dirigierte Rimskys glanzvolle Musik großartig, das Orchestre de l'Opéra National de Paris folgte mit Charakter und Farbe. Es war ironisch, dass gerade die wohl berühmteste Szene in einer so vollen Darstellung gestrichen wurde – der energische Tanz der Gaukler (im Jänner stellte die Opera North diesen als Entr'acte nach der Pause in den Mittelpunkt).

Snegurotschka schmilzt, Misgir begeht Selbstmord, aber das Leben geht weiter, die Festivitäten dauern an, der Kreislauf wird durch das Verbrennen eines riesigen Rades dargestellt. Rimsky mochte Snegurotschka besonders, bezeichnete er sie doch als seine „neunte Symphonie”. Tcherniakovs Frühlingsweihe ist unglaublich erfüllend, durchtränkt mit wahrer Liebe zu Rimskys Werken. Nach Die Braut des Zaren und Die Legende von der unsichtbaren Stadt Kitesch beweist Tcherniakov mit dieser Inszenierung einmal mehr, dass er der momentane Meister Rimsky-Korsakows Opern ist.

 

Aus dem Englischen übertragen von Elisabeth Schwarz

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