Bis auf die Tatsache, dass der technische Fortschritt in puncto Anreisemöglichkeiten und Social Media samt internationalem Massentourismusklientel den Karneval von Venedig nachhaltig verändert hat, wird alljährlich versucht, den berüchtigten Maskenrausch und Feierexzess der Lagunenstadt traditionell glanzvoll und mit zauberhaftem Flair alter, pompöser, farbprächtiger Kleider aufrecht zu erhalten, wie zu Zeiten des Barock. So beginnt die überlaufene, verrückte, nun aber auch offiziell närrische Zeit stets mit dem seit dem sechszehnten Jahrhundert eingebürgerten Volo dell'Angelo, bei dem eine nervenstarke, artistisch veranlagte Ballkönigin per Stahlseil vom Campanile über den Markusplatz hinabgleitet. Musikalisch gewiss geht es zugegebenermaßen nicht immer historisch korrekt zu, doch dafür gibt es ja das von der in Venedig residierenden Brunetti-Krimiautorin Donna Leon patronierte Ensemble Il pomo d'oro und die schwedische Hochleistungs-Mezzosopranistin Ann Hallenberg, die mit ihren künstlerischen Darmsaiten- und Koloraturakten einen eigenen Engelsflug hinlegen. Auszüge aus der vor fast zwei Jahren entstandenen CD Carnevale 1729 konnten jetzt vor dem realen Trubel in Brüssel bestaunt werden.

Mit Leos Arie Soffre talor del vento – wie alle eingespielten Werke neuzeitliche Premieren, die wir auch der Recherche Hallenbergs Ehemann zu verdanken haben – setzten Solistin und Orchester zum Flug an, das instrumentale Vorspiel weich, schwebend und unter der physisch mitgehenden Konzertmeisterin Zefira Valova wiegend wie die typischerweise venezianisch besungenen Winde und Wellen von Meeresseite, von dessen Schicksal die Stadt abhängt und so die musikalischen Allegorien für die Schicksale der Charaktere bilden. Auf deren Bahnen schwang sich Hallenberg auf, sowohl klar in ihrer bestechenden Diktion als auch der abgesetzten Artikulation von Staccato und Trillern, charmant und leicht den Atem der Empfindung fließen zu lassen. Stellte sie im kurzen, schnelleren B-Teil ihre prägnante Mischung aus Spritzigkeit und Eleganz bereits unter Beweis, steigerte sie mit dem Ensemble im A-Dacapo die in Dynamik und Phrasierung gelebte geschmeidige Extravaganz. Schade nur, dass die Stimmung trotz der unnachahmlichen Direktheit vor dem Hintergrund des zu großen und leider nicht gut besuchten Saals des BOZAR nicht immer so übergreifen sollte wie bei der Paarung gewohnt. Da Hallenberg gerade hinabgeschwebt war, passte es, als sie mit Giacomellis Mi par sentir la bella von unten den Blick gen Himmel zu den Sternen richtete, genauso wie die wonnevolle Lieblichkeit und sanften Legato-Schleifen, gegen die die vokal-konzertante Solooboe Roberto de Franceschis fast grober wirken musste.

Die italienisch-schwedische Koproduktion fand sogar ohne Sängerin ihre Fortsetzung in Galuppis Concerto à quattro Nr. 2. Manuskripte der Konzertsammlung waren in Modena entdeckt worden, Abschriften davon tauchten in Rom und Venedig auf und eben in Schweden. Den ersten Satz, nach seichtem Andante-Intro mit einer Allegro-Fuge beginnend, präsentierte Il pomo d'oro mit wallender, fein temperierter Strahlkraft und Griffigkeit. Gleich der Eindrücklichkeit einer Arie vermochten die Musiker, das mittlere Andante singend dramatisch auszuleuchten mit leiser, platter, aber nicht regloser Melancholie, kontrastiert von starken, lauten, scharfen Klageaufschreien. Die eindeutig vorklassischen Züge Galuppis kamen im Allegro assai zum Vorschein, in dem das Ensemble feiergemäß hüpfte und tanzte, Valova trillerte und ihr Counterpart an der zweiten Violine, Lucia Giraudo, mit kurzen Läufen diametral sekundierte. Nachdem Hallenberg mit Leos Ombra cara mit wohldosierter Spitze und entzückender Verständlichkeit in höhere Register vorgestoßen war, schlugen die Wasserwogen und Luftzüge auf offenem Meer in Vincis Nave altera che in mezzo all'onde hoch. Auch hier manövrierte sich die Solistin ganz des erhofften Beistands mit eingängigem Geschick durch die technischen Bedrohlichkeiten; Bedrohlichkeiten, die Il pomo d'oro mit angeschlagenen Martellati in stimmiger Balance entfachte. Vincis Beispiel folgte Orlandinis Pendant Scherza in mar la navicella mit beschwingendem Triumph, detailreichen Wortausdeutungen, gleichzeitig aber etwas zurückgenommenem Furor.

Der tückischen Mutprobe wollte sich auch Valova stellen, und zwar mit Vivaldis schwierigstem Violinkonzert, „Il grosso mogul”. Mit der Überzeugung und Selbstverständlichkeit, die man für das Stück braucht, nahm sie den freien Platz vorne inmitten des Ensembles ein und erstaunte mit einer an sichersten Doppelgriffen sowie feinen, energischen und spannenden Kadenz reichen Präsentation des ersten Allegro, gepaart mit dynamischer Aufmerksamkeit in scheinbarer Bewältigungs-Nonchalance. Voll klarer, leuchtender Inbrunst gestaltete sie zudem das ungewöhnlich und harmonisch übermäßige, orientalisch-exotisch verzierte Grave recitativo, aus dem sich Valova zur Großmogulin des Abends aufschwang, als sie nach ersten Anklängen von Elementen der Vier Jahreszeiten den gesteigerten Wirrwarr-Anspruch des finalen Allegro souverän und mit präziser, leichter Gabe packte. Bis auf zwei Ausrutscher in der Kadenz, von der sie sich nicht herausbringen ließ, meisterte sie die verlangten Wechsel, in denen der Spaß aus dynamischen, figurativen, technischen und dekorativen Wechseln nicht unterging.

Aufgefangen wurde der Zuhörer nach diesem instrumentalen Flug abermals in den Armen und der Stimme Hallenbergs, die sich in Porporas Bel piacer saria d'un core in all anziehender, galanter Schönheit und in den Charakter einziehender Betonung samt virtuoser Trilli entfaltete. Wie es sich für den Karneval ziemt, endete die Show mit einem Feuerwerk, Orlandinis Bravour-Arie Non sempre invendicata. Mit ihr wurde man wieder aus dem Venedig von 1729 herausgespült und balancierte der Mezzo zurück auf den Campanile.

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