Einen Tag vor der Premiere, die am Freitag, dem 13. März, hätte stattfinden sollen, mussten alle Theater in den Niederlanden ihre Tore schließen. Alle vier Opern im Rahmen des Opera Forward-Festivals der Nationalen Niederländischen Oper mussten abgesagt werden. Für die beinahe gesamte ursprüngliche Besetzung von Ritratto, der neuen Oper von Willem Jeths, gab es nun doch noch ein Happy End: mit siebenmonatiger Verspätung – und nach der gefilmten Vorstellung im leeren Auditorium im März – kam es gestern zur langersehnten Welturaufführung vor Publikum.

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Ritratto
© De Nationale Opera | Sanne Peper

Willem Jeths und sein Librettist Frank Siera (der hier an der holländischen Küste im Nachbardorf Katwijk wohnt) haben eine Oper geschrieben, die es in sich hat. Sie porträtieren Luisa Casati, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine der reichsten Frauen Italiens war und ihr Lebensziel („Ich möchte ein lebendes Kunstwerk sein.“). Zu diesem Zweck versammelte sie eine illustrere Schar von Künstlern um sich herum, die alle in Jeths' Oper auftreten: Romaine Brooks, Gabriele D’Annunzio, Sergei Diagilew, Jacob Epstein, Kees van Dongen, Filippo Marinetti und Man Ray, dessen doppeläugiges Foto von Casati sie wohl unsterblich gemacht hat.

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Verity Wingate (Luisa Casati)
© De Nationale Opera | Sanne Peper

Die Musik von Jeths steckt voller Zitate (u.a. Ravels La Valse, Tschaikowskys Onegin und Strauss‘ Salome). Jeths' Eklektizismus passt zum Thema der Oper. Casati umgab sich mit Attributen unterschiedlichster Stilrichtungen. Sie übertrieb einen extravaganten Lebensstil, inspirierte Künstler, war aber selbst wenig kreativ. Jeths ahmt diese Haltung mit an Selbstverleugnung grenzender Konsequenz nach. Sein herausragendes kompositorisches Können stellt er andersweitig unter Beweis: Den italienischen Tenor Paride Cataldo lässt er mit einer einfühlsamen Liebesarie in seiner Muttersprache glänzen und für das gesamte Sängerensemble komponiert er so betörende A capella-Stücke, dass es eine wahre Freude ist.

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Ritratto
© De Nationale Opera | Sanne Peper

Die in kleiner Besetzung spielenden Musiker des Residentie Orkest verbanden die wechselnden Stimmungen und Musikstile geschmackvoll und überzeugend. Dirigent Geoffrey Paterson begleitete die jungen Sänger behutsam, strahlte Ruhe aus und ließ Jeths' Musik atmen. Marcel Sijm richtet sein Regiekonzept auf die Einsamkeit seiner Hauptperson. Die aberwitzig-fantasiereichen Kostüme des preisgekrönten Modeschöpfers Jan Taminiau zwingen die Sänger zu unnatürlichen Bewegungen, deren Künstlichkeit durch die vom Vogue-Tanzstil inspirierte Choreografie noch unterstrichen wird. In diesem visuellen Powerplay sang Verity Wingate die Arien der Casati kraftvoll und ausdrucksstark. Ihrer Rolle gemäß konnte sie erst gegen Ende der Oper das Publikum mit wahrer Gefühlstiefe berühren. Zu diesem Zeitpunkt hat sie sich, beseelt von der wahnhaften Idee, ihr von Brooks gemaltes Portrait realistischer zu machen, ihre Augen ausgestochen. Sie verschließt mit dieser grausamen Handlung auch ihre Augen vor dem finanziellen Ruin, in den sie sich mit ihrem ausschweifenden Lebensstil gestürzt hat. Nur ihr Diener Garbi, vortrefflich gesungen von Martin Mkhize, ist noch bei ihr. Mkhize hatte seinen großen Auftritt zu Beginn der Oper, als er das Publikum vor dem roten Vorhang mit seinem herrlichen Baritontimbre als Gäste zu Casatis Ballnacht begrüßte.

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Verity Wingate (Luisa Casati)
© De Nationale Opera | Sanne Peper

Coronabedingt hält er bis in die Schlussszene immer einen gebührenden Abstand zu seiner Kollegin. Die Produktion war ursprünglich für eine viel kleinere Bühne entworfen und kann sich auf der Amsterdamer Opernbühne nun ausbreiten. Das Dekor von Marc Warning ist ebenfalls raumfüllend angepasst und ergänzt spielerisch Kostüme und Choreografie (Zino Ainsly Schat).

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Verity Wingate (Luisa Casati)
© De Nationale Opera | Sanne Peper

Was bedeutet uns Kunst? Halten wir es mit Nietzsche? „Wir haben die Kunst, damit wir nicht an der Wahrheit zugrunde gehen.“ Oder lassen wir uns durch die von Jeths' und Sieras Ritratto aufgeworfenen Fragen wachrütteln? Casati hat alles gewagt und alles verloren. Aber sie fand Trost sowohl in der Wahrheit als auch in der Fantasie. Garbi singt als letzten Satz: „You found comfort in both truth and fantasy: fantasia e verità.“

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