Herbert Blomstedt ist zur Zeit der wohl bedeutendste Bruckner-Dirigent. Dass er auch Mahler dirigiert, dürfte vielen Musikliebhabern bislang unbekannt gewesen sein. Dafür, dass er diese Musik lange kaum gespielt hat – von 1992 gibt es eine Einspielung mit Mahlers Zweiter, als Blomstedt noch Chef des San Francisco Symphony Orchestras war – hat der Dirigent eine einfache Erklärung: „Das war eine Mode. Heute ist die Mahler-Welle ein bisschen abgeflaut – und jetzt komme ich!“ Und wie! Blomstedt tastet sich nicht schrittweise an Mahler heran, sondern stellt sich mit fast 91 Jahren (im Stehen!) gleich dem schwersten Brocken: der Neunten.

Wer Blomstedt kennt, der weiß, dass er kein Grübler am Pult ist, keiner, der immer und stets hinter die Noten schaut, sondern einer, der mit Nietzsche gesprochen „oberflächlich – aus Tiefe“ ist. In Blomstedts Aufführung der Neunten Mahlers in der Meistersingerhalle in Nürnberg gab es nicht eine Phrase, der er keine Aufmerksamkeit schenkte. Er ließ alles singen und blühen oder eben fahl klingen und verdämmern. So wie Abbado am Ende seines Lebens, so erntet auch Blomstedt die Früchte seiner lebenslangen Arbeit. Ein Dirigent ist für ihn keiner, der es besser weiß, sondern ein Zuhörer und ein Koordinator, nicht mehr und nicht weniger. Diese Kunst ließ sich schon an den ersten Takten bewundernd wahrnehmen. Dort führt Mahler vor, wie ein Thema aus Motivzellen allmählich entsteht. Er setzt in der folgenden Exposition nicht etwa drei Themen, sondern komponiert ein Geflecht aus Motiven. Immer dann, wenn der Hörer annimmt, nun Boden unter den Füßen gewonnen zu haben, straft ihn der Verlauf der Musik Lügen. Blomstedts Ökonomie in der Gestik, seine feinsinnigen Impulse beflügelten die Musiker, die er selbst mit Schwämmen vergleicht, die alles in sich aufnehmen können.

Beeindruckender noch als die Exposition gelang noch die Darbietung der Durchführung. Wie oft zerfällt sie, weil die Musiker die Fermaten nicht auskosten, die Musik nicht auf den Stillstand im Zentrum hinführen und von dort wieder zum Anfang der Reprise heraufarbeiten. Blomstedt wusste dies zu gestalten, zu führen und zu leiten. Die Orchesterkultur war hier besonders zu bewundern. An den Bamberger Symphonikern lobt Blomstedt seit jeher die „Gelassenheit, Natürlichkeit und Frische“ beim Musizieren. Dies ermöglichte ihm bei dieser Darbietung, die Zusammenklänge der Stimmführung jeweils zum Leuchten zu bringen, wodurch Mahlers Kunst zu Instrumentieren, in all ihrer Formkraft erstrahlen konnte. Die meisten weniger erfahrenen Dirigenten neigen oft dazu, insbesondere den letzten Ausbruch vor der Reprise im Lärm untergehen zu lassen, vielleicht auch weil ihnen die Erfahrung Blomstedts fehlt. Den Zusammenbruch in der Reprise gestalteten die Bamberger mit der größten Konzentration. Das leidenschaftliche zweite Thema explodierte nun nicht mehr wie zu Beginn, sondern implodierte, so dass die Form einen völlig neuen Weg einschlug und jede Verbindung mit dem bisher Gehörten verlor. Blomstedt ließ die Erinnerung an das Bisherige anklingen, dann wieder Neues entstehen, schließlich löste sich die Form ganz in ihre Bestandteile auf.

Der zweite Satz stellte ganz andere Herausforderungen an die Aufführenden. Mahler wirbelt in ihm mehrere Wiener Tanzcharaktere durcheinander. Dass Blomstedt Mahler lange nicht dirigierte, hat damit zu tun. Erst jetzt habe er zu schätzen gelernt, dass Mahler, wie der Dirigent sich ausdrückt, wie kein anderer es vermocht habe, Kunstmusik mit Volksmusik zu verbinden. Doch auch hier hütete sich Blomstedt davor, die mitunter ganz einfachen Melodien zu ironisieren. Er artikulierte die einzelnen Charaktere sehr genau, differenzierte sie voneinander und kombinierte sie schließlich miteinander. Daraus entstand die Collage, die Mahlers Absichten wesentlich besser traf als alle fratzenhaften Karikaturen, die immer schon zugrunde richten, bevor die Musik überhaupt erklingen konnte. Hier kam Blomstedts fast jugendliche Frische seiner Darbietung zur vollen Blüte.

Dann folgte die Burleske, Mahlers virtuosester Satz. Doch hüteten sich die Musiker vor jeder Hetze. Trotzig im Ton wurde musiziert, wie es von Mahler vorgeschrieben ist. Alles klang kultiviert, koordiniert und dennoch niemals distanziert. Nach einem irrwitzigen Fugato zogen die Musiker im Sinne Mahlers den Vorhang auf und gewährten den ersten Ausblick auf das Finale: Das Doppelschlag-Motiv deutete auf den letzten Satz. In edlem Ton nahm das Motiv in der Trompete wie im vorherbstlichen Ocker das Final vorweg, wo dieses Motiv dann in den Streichern zunächst warm aufblühen durfte. Harlekine in den Holzbläsern riefen zur Schluss-Stretta, die fulminant geriet.

Den Abschied des Finales dirigierte Blomstedt ohne Sentimentalität. Seine Erfahrung mit Brucker-Adagios half ihm dabei, den Ton groß aber nicht pathetisch werden zu lassen. Überzeugend gelang der Rückbezug zum Kopfsatz, weil Blomstedt diesen Rückbezug über die Instrumentation gestaltete. Alles bäumte sich auf. Doch Mahler gibt den Kampf auf. Ein Glissando verrät, dass alles in sich zusammensinkt. Und dass Blomstedt kein Musiker des bloßen Details ist, verrieten die Schlusstakte des Finales. Wenn je das überstrapazierte Wort vom „großen Bogen“ erlaubt ist, dann hier. So wie die ersten Takte alles entstehen ließen, so ließen die letzten alles verblühen. Mit Schlichtheit im Ton endete diese Aufführung. Blomstedt gelang es, den Beifall ein wenig hinauszögern, um Mahler die mit Sicherheit gewünschte Stille nach dem letzten Akkord Doppelschlagsfigur zu gönnen. Nach dieser Aufführung gab es nur eine Reaktion im Publikum: Dankbarkeit.

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