Jeder Dirigent hat im Laufe seiner Arbeit ein oder mehrere Klischees aufgedrückt bekommen. Kent Nagano wird nachgesagt, dass die von ihm geleiteten Aufführungen zwar hinreißend, aber zu leicht dirigiert seien. Doch die unter seiner Leitung des Deutschen Symphonie-Orchesters Berlin erklingende Sechste Symphonie Mahlers hinterließ einen ganz anderen Eindruck.

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Kent Nagano
© Antoine Saito

Mahlers „Tragische“ ist die klassizistischste seiner Symphonien und kann doch nur in dieser Strenge das der Gattungsgeschichte verpflichtete Erbe sprengen. Dem als Vermittler der Moderne geltenden Dirigenten war es darum ein Anliegen, eine Verbindung dieser Seiten herzustellen, und in der Form die großen Gegensätze aufzufangen. Die vom Marschgestus beherrschten Passagen ordnete er einem strikten Grundschlag unter; in den Abschnitten, die diese kontrastieren, gestattete er dem Orchester dagegen ein rubatoseliges Spiel, das durch Mahlers überreiche in der Partitur notierten Spielanweisungen unterstützt, die Musik ins Fließen brachte. Wenn etwas fehlte, dann wäre anzumerken, dass die dynamisch gleichfalls von Mahler sehr differenziert notierten Anweisungen häufig nicht beachtet wurden. Während Nagano in dem die ganze Partitur durchwirkenden Dur-Moll-Siegel zu Beginn die chiastische Dynamik genau befolgte – die Trompeten haben von ff zu pp zu decrescendieren, die Oboen umgekehrt dazu gleichzeitig von p zum ff ein Crescendo zu blasen müssen überspielte er an vielen Stellen ähnlich präzise fast paradox anmutende Vorschriften in Mahlers Partitur.

Gut gelungen, weil den Geist der Partitur hervorkehrend, waren die nach A-Dur gezerrte Vorwegnahme der Hauptthemenreprise und das inszenierte Spektakel, mit dem das durchaus den Kitsch streifende Seitenthema am Ende in die Apotheose gedrängt wurde.

Erst im Andante wurden die lyrischen Töne der Symphonie in ein Präteritum versetzt, in dem sich nun ausbreiten durfte, was dem Seitenthema des Kopfsatzes verwehrt war – etwa in der betörend schön von Max Werner vorgetragenen alten Englischhorn-Weise. Wenn für mich das dem Formverlauf externe Misterioso, in dem das einzige Mal in der Symphonie C-Dur für einen Moment zum Erklingen kommt, nicht so unbeschreiblich still gelang, wie dies Abbado einst gelungen ist, dann möchte ich, bevor ich vorschnell aburteile, statt zuzuhören, fragen, ob Nagano vielleicht gar nicht recht an diese Idylle glaubt und sie darum fast etwas verlegen in den Hintergrund treten ließ. Wie genau Nagano die Partitur nämlich kennt, war kurz danach festzustellen, wenn er hellhörig das von der alten Weise eigentlich längst verdrängte erste Thema sich kurz in den Bratschen doch noch einmal Gehör verschaffen ließ.

Im Scherzo war der Marsch dann in das Dreiermetrum zu versetzen und später der Ländler wie als ein uneingelöstes Versprechen darzubieten. Nagano weiß gut, dass Mahlers Ironie, die in früheren Werken oft so überdeutlich hervortritt, in seinen späteren Werken fast porös geworden ist für das in ihr Verhüllte.

Zu den großen Herausforderungen, die eine Aufführung der Sechsten Symphonie Mahlers stellt, gehört das Finale, dessen Eigenart auch darin besteht, dass Mahler die Motive, die das Geschehen erst antreiben, dann zerstören, von den Hauptthemen in die Überleitungen verlagert hat. Darum hob Nagano vor allem die Motive, in denen die Oktave ab- und aufsteigt, in den Vordergrund, weil Mahler in ihnen auf den Punkt gebracht hat, was die Formkurve des gesamten Satzes prägt, die bis zum Schluss offen lässt, welche Richtung das Finale schließlich einschlägt. Die Tonart wurde nach A-Dur aufgehellt, und doch wurde das Finale nicht wie der Kopfsatz in die Apotheose getrieben. Stattdessen nahm die Destruktion der Form ihren Lauf, was unter Naganos Händen in aller Brutalität zu Gehör gebracht wurde. Zu einem guten Ende kam es nicht. Mit erhobenem Haupt verabschiedete sich das Subjekt der Symphonie in dem um den Dur-Akkord gebrachten Siegel aus dem Werk.

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