Den Namen des Gründers trägt das Gstaad Menuhin Festival schon im Titel. Auch heute noch ist die Erinnerung an Yehudi Menuhin, der das Festival 1957 ins Leben gerufen und während 39 Jahren geleitet hat, sehr lebendig. Vor einigen Jahren hat Christoph Müller, der aktuelle künstlerische (Noch)-Direktor des Festivals, den Status „Menuhin’s Heritage Artists“ eingeführt. Er wird vorwiegend jungen, noch wenig bekannten Musikerinnen und Musikern verliehen, die im Geiste Menuhins künstlerische Qualität mit geistiger Offenheit und der Lust am Musizieren unter Freunden verbinden. Während fünf Jahren werden sie nach Gstaad eingeladen, um sich einem neugierigen Publikum vorzustellen.
Einer dieser „Menuhin-Erben“ ist der nicht mehr ganz junge Nemanja Radulović. Der serbisch-französische Geiger, der als Jüngling selbst einmal in einer Meisterklasse von Menuhin saß, verkörpert die Ideale des Meisters in vorbildlicher Weise. In diesem Sommer, seiner dritten Residenz am Festival, hat Radulović sein eigenes Ensemble Double Sens mitgebracht.
Beim einzigen Auftritt der Truppe in der Kirche Saanen war dann alles ein bisschen anders als bei „normalen“ klassischen Konzerten. Schon die optische Erscheinung von Radulović mit seinen schulterlangen schwarzen Kraushaaren, oben zu einem Dutt zusammengebunden, und dem clownesken Anzug entsprach nicht dem üblichen Dresscode. Und das angekündigte Programm enthielt keine Originalkompositionen, sondern überraschende Arrangements. Nach der „Pflicht“ mit derart bearbeiteten Kompositionen von Beethoven und Rimsky-Korsakow folgte die „Kür“, bei der die Gäste eine Auswahl aus ihrem Album Roots zum Besten gaben.

Ludwig van Beethovens Violinsonate Nr. 9 in A-Dur, Op.47 hat Radulović selber bearbeitet. Aus dem Duo für Violine und Klavier ist dabei eine Komposition für Solovioline und Streicher geworden, was den Charakter natürlich stark verändert. Gerade beim Variationssatz vermisste man den kontrastierenden Klang eines Klaviers. Die Streicherversion ermöglicht andererseits Abstufungen, indem nicht immer das ganze Ensemble, sondern manchmal nur eine Auswahl davon mitwirkt. Die Interpretation wirkte auf jeden Fall mitreissend. Das lag in erster Linie am Solisten selber, der alle Qualitäten eines Animators und Showmasters mitbringt, so dass man ihm einige Trübungen in der Intonation nicht übelnahm. Aber auch das Ensemble beschränkte sich keineswegs auf die Rolle eines Statisten, sondern interagierte lustvoll mit dem Solisten.
Bei der Bearbeitung von Rimsky-Korsakows Scheherazade liegt nicht, wie bei Beethoven, eine Aufblähung, sondern eine Verminderung der Besetzung vor. Aleksandar Sedlar hat die Sinfonische Dichtung für Violine solo, Klavier und Streicher bearbeitet. Keine Holz- und Blechblasinstrumente also, Ersatz der Harfe durch das Klavier, dafür ständige Präsenz der Sologeige. Dies war ganz nach dem Geschmack von Radulović, der in dieser Rolle sichtlich aufblühte. Er spielte frei, quasi fantasierend und leitete das Gesehen, indem er seinen Musikern immer wieder feurige Blicke zuwarf. Dass die Stimmführerin der zweiten Violinen eines seiner Soli plötzlich mit einer gepfiffenen zweiten Stimme begleitete, war natürlich abgesprochen. Die orientalisch angehauchte Geschichte aus Tausendundeiner Nacht mündete dann, in Abänderung des Originals, in einen fulminanten Schluss.
Als (geplante) Zugabe dann die Kür: Das Album Roots, 2022 bei Warner Classics herausgekommen, vereinigt Arrangements folkloristischer Stücke aus allen Erdteilen. Die etwa zwanzig Minuten dauernde Kostprobe daraus offenbarte die Seele von Radulović und Double Sens. Die Musiker ließen ihrem Temperament freien Lauf und glänzten nicht nur auf ihren Instrumenten, sondern durften auch auf den Holzboden stampfen oder bei einer Duetteinlage des Primgeigers mit der Pianistin sich schunkelnd auf dem Podium bewegen. Für das Publikum gab es danach kein Halten mehr; der Applaus war stürmisch.
Die Hotelkosten von Thomas Schacher wurden vom Gstaad Menuhin Festival übernommen.