Hyperakusis – so bezeichnet man die Lärmempfindlichkeit, unter der Sir Morosus leidet, und bei der schon kleinste Geräusche nicht nur störend, sondern gar als unerträglich empfunden werden. Selbst italienischer Belcanto, der Inbegriff des Schöngesangs, lässt ihm die Haare zu Berge stehen. Daher lebt der wohlhabende Londoner Mitsechziger zurückgezogen, meidet jegliche, meist lärmende Kontakte und wird nur von einer Haushälterin und einem Barbier versorgt. Dass die Krankheit aus einem schrecklichen Kriegserlebnis resultiert, wird nicht vorenthalten und so mag zur ersten Diagnose noch eine posttraumatische Belastungsstörung hinzukommen. Ein tragischer Ausgangspunkt für das Drama von Ben Jonson aus dem Jahre 1609, doch dank Stefan Zweigs Bearbeitung und Richard Strauss' Komposition wird aus Die schweigsame Frau eine Komödie, die trotz ernster Momente überaus spritzig und heiter ist.

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Franz Hawlata (Sir Morosus) und Brenda Rae (Aminta)
© Wilfried Hösl

Strauss bezeichnete Stefan Zweigs Libretto-Bearbeitung als „die geborne komische Oper“. Es ist die erste Zusammenarbeit an einer Oper nach dem Tod seines Haus- und Hoflibrettisten Hugo von Hofmannsthal, mit dem er auf eine überaus fruchtbare Kollaboration zurückblicken konnte. Trotz der zugänglichen und komischen Geschichte gehört Die schweigsame Frau zu Strauss' weniger beachtetem Spätwerk – völlig zu unrecht, wie die Inszenierung von Barrie Kosky von 2010 bei dieser Wiederaufnahme an der Bayerischen Staatsoper wieder einmal deutlich macht. Zweig und Strauss folgten mit Die schweigsame Frau ganz dem Credo Hofmannsthals, der sagte: „Die Tiefe muss man verstecken. Wo? An der Oberfläche.“ Die nur auf dem ersten Blick schrille und urkomische Darstellung der bunten Operntruppe, die sich mit dem rüstigen Sir einen doch recht üblen Scherz erlaubt, ist nur anfänglich spaßig. Im Verlauf der Oper wird klar, dass auch der cholerischste Misanthrop Sehnsucht nach menschlicher Nähe und Zweisamkeit sucht.

<i>Die schweigsame Frau</i> &copy; Wilfried Hösl
Die schweigsame Frau
© Wilfried Hösl

In gewohnter Kosky-Ästhetik präsentiert der Meister der Operette das Strauss'sche Spätwerk in kontrastreicher Bildsprache und Deutung. Das minimalistische Bühnenbild setzt sich den schrillen Kostümen der Sänger*innen entgegen, die als reisende Operntruppe in Commedia dell'Arte-Manier ein Wimmelbild für den versierten Theatergast bietet: Man entdeckt Maria Callas im Tosca-Kostüm, Escamillo als spanischen Matador und sogar Brünnhilde mit Flügelhelm. Kosky würzt die Komödie immer mit einer Prise Ironie, um das Drama und sein Libretto, mit Witzen, die nicht alle so gut gealtert sind, nicht allzu ernst nehmen zu müssen. Stattdessen gewinnt er durch Übertreibung und plakative Komik eine kritische Distanz zur Oper – alles wird mit einem Augenzwinkern präsentiert.

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Daniel Behle (Henry Morosus)
© Wilfried Hösl

Stefan Soltész und das Orchester der Bayerischen Staatsoper nahmen den spritzigen Humor und die Leichtigkeit des Dramas in ihrer Interpretation gekonnt wieder auf. Mit agilem aber geschmeidigem Dirigat und virtuosem Temperament blühte die von so zahlreichen musikalischen Zitaten und selbstreferenziellen Phrasen geprägte Partitur von Strauss im Graben richtig auf. Die hingebungsvolle Spielfreude der Sänger*innen unterstrich dies zusätzlich und ließ in seiner musikalischen Interpretation kaum Wünsche offen und das so text- und konversationsreiche Opernlibretto wurde mit großem Gespür für Timing und Tempo umgesetzt.

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Die schweigsame Frau
© Wilfried Hösl

Franz Hawlata beeindruckte erneut in der nicht zu unterschätzenden Rolle des Sir Morosus, die einem Ochs im Rosenkavalier nahe kommt, mit vielschichtiger und umfassender Rollengestaltung. Den Drahtseilakt zwischen absurdem Slapstick und nachdenklich stimmenden Tiefgang meisterte er vortrefflich, sodass die stimmlich nicht immer perfekte Ausführung durchaus verziehen werden kann. In seiner Schlussarie „Wie schön ist doch die Musik“ setzte er mit souveräner Deklamation ein musikalisches Ausrufezeichen der leisen Art als überaus versierter Strauss-Interpret. Björn Bürgers viriler Bariton strotzte und sprühte vor Charisma und beweist, dass der beste Freund des Menschen wohl doch sein Frisör ist. Brenda Rae balancierte virtuos zwischen ihren Rollen Aminta und Timida und vermochte es, beide überzeugend darzustellen und für sich zu vereinnahmen – stets mit dem perfekten Grad an nerviger Überdrehtheit oder bezauberner Schüchternheit. Ihr einzigartiger Koloratursopran erklang strahlend und schwerelos wie eh und je und ihre Stimme tanzte mühelos zwischen schwindelerregend hohen Tönen und zartseidenen Pianissimi. Daniel Behle ließ als Neffe Henry den Heldentenor mit filigran differenzierter Stimme immer wieder durchscheinen und gestaltete die Rolle mit lyrisch weicher Wandelbarkeit.

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Lavinia Dames (Isotta) und Björn Bürger (Schneidebart)
© Wilfried Hösl

Die schweigsame Frau bleibt ein Kuriosum und eine Rarität auf den Spielplänen der hiesigen Opernhäuser. So wird Koskys regelmäßig wiederaufgenommene Inszenierung an der Bayerischen Staatsoper noch mehr zu einem Juwel – einer Singularität, die es zu bewahren gilt.

Am Ende wird der Scherz aufgelöst, alle fallen sich erleichtert in die Arme und selbst Sir Morosus kann darüber lachen. Das Trauma scheint überwunden und der Patient genesen. Der Beweis wurde erbracht: Lachen ist die beste Medizin.

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