Es gibt im Heldenleben von Richard Strauss einen Abschnitt, der „Des Helden Friedenswerke“ überschrieben ist. Darin lässt der im Zenit seines Schaffens stehende Komponist Ausschnitte aus seinen bisher komponierten Werken wie Revue passierend anklingen – als Antwort auf Krieg und Hader seiner Zeit. Ein wenig erinnert mich Rattles Abschiedstournee an diese Passage aus der Tondichtung von Strauss. Rattle, der sich ja keineswegs zur Ruhe setzt, sondern in London mit großem Engagement fortsetzt, was er in Berlin begonnen hat, lässt die Edelsteine seiner 16-jährigen Arbeit mit den Berliner Philharmonikern am Hörer vorbeiziehen. Und seine Freunde helfen ihm dabei. Nicht allein die Orchestermusiker, sondern auch einige Komponisten, die für die von Sir Simon initiierte „Tapas-Serie" kurze Werke schreiben.

So etwa Jörg Widmann. Dessen Tanz auf dem Vulkan beginnt schon, als Rattle noch nicht auf der Bühne steht und läuft weiter, als er schon ins Dirigentenzimmer zurückgegangen ist. Man kann dies als Slapstick belächeln oder sich fragen, inwieweit dieses erst vor wenigen Tagen vollendete „fast durchgängig schnell, dicht und atemlos“ (Widmann) zu spielende Stück, durch Woyzecks Satz „Der Mensch ist ein Abgrund“ inspiriert ist … oder in ihm doch „nur“ hören: Die Musiker haben vor seiner Zeit gut gespielt und werden es nach seiner Zeit tun. Aber es war schön, mit ihm gemeinsam zu musizieren.

Ich selbst habe Witold Lutosławskis Dritte Symphonie 1985 unter Leitung des Komponisten gehört. Noch später, als ich sie unter Barenboim mit den Philharmonikern hörte, verließen einige Hörer während der Aufführung kopfschüttelnd den Saal. Dass die Berliner Konzertbesucher heute mit großer Aufmerksamkeit solch ungewohnten Klängen folgen, ist auch das Verdienst Sir Simon Rattles. Die Symphonie beginnt mit Achtelschlägen, die gliedernd im ganzen ersten Abschnitt der einsätzigen, in sich aber doch zweiteiligen Symphonie erklingen. Zwischen diesen Pfeilern umkreisen die Instrumente einander mal zögernd, mal neugierig und erspüren dabei die Wirkungen der Intervalle, die sie intonieren. Vor allem das hochrangig besetzte Holzbläser-Ensemble liebt dieses improvisatorische Spiel in Gruppen. In einigen Teilen ist der Verlauf festgelegt, in anderen nicht. Rattle ließ das Orchester ganz im Sinne Lutosławskis frei spielen, ließ Passagen nach dem Zufallsprinzip aufeinander stoßen und dann in neuer Kombination erklingen, ließ Wellen entstehen und sie wieder abebben. Er regelte die Bewegungsabläufe, koordinierte die Gruppen und griff nur ein, wenn es ihm nötig erschien. Er stellte sich vor das Orchester wie vor ein Wandgemälde, der die Details beim genaueren Hinsehen immer besser kennenlernt. Im zweiten Teil der Symphonie waren für mich dann Abschiedsgesten hörbar – zunächst eine Elegie in den Celli, dann ein Bläser-Choral. Rattle ließ die Textur entsprechend großräumiger werden. In jedem Takt spürte man Rattles Liebe zu dieser Symphonie, die er als junger Mann im Rundfunk gehört hatte.

Nach der Pause dann Brahms’ Erste. Die Berliner Philharmoniker galten Mitte des letzten Jahrhunderts als das Brahms-Orchester schlechthin, so wie die Wiener den Ruf genossen, das weltbeste Bruckner-Orchester zu sein. Heute sind diese Unterschiede nicht mehr so scharf zu trennen. Wer Rattles Konzerte besucht hat, der weiß, dass er Schwierigkeiten damit hatte, mit dieser Last der Tradition umzugehen. Hörte er die Riesen Furtwängler und Karajan hinter sich marschieren, wenn Brahms-Partituren auf seinem Pult lagen? Mit großem Ehrgeiz und zähem Fleiß eignete Rattle sich diese Musik an – und das Orchester ließ sich darauf ein. Krönung dieser Arbeit war wohl diese Aufführung der c-Moll Symphonie. Wann hat man je ein so durchsichtiges wie klangvolles Forte gehört als zu Beginn der Symphonie? Wie oft dröhnten in seinen früheren Aufführungen dieser Introduktion die Bläser tonnenschwer und darin noch unterstützt von der erbarmungslos hämmernden Pauke. Höhepunkt der ganzen Aufführung war dann die Darbietung des so eigenwillig komponierten Finales. Eigenwillig ist der letzte Satz vor allem darum, weil Brahms in ihm die tradierte Hierarchie der Themen eines Sonatensatzes mit Introduktion im Laufe des Satzes ändert. So erklingt am Ende der Introduktion nach der berühmten Alphornweise im pianissimo ein Choral, der dann im Fortissimo am Ende, wenn die Symphonie per aspera ad astra vom Moll ins Dur aufgelichtet wird, wieder erklingt, um das ganze Werk zu krönen. Dieser Choral wurde als das Ziel der gesamten komponierten Handlung von Rattle aufgefasst. Die Dramaturgie der Interpretation war so besonnen wie überzeugend realisiert.

Diese Apotheose zu schreiben fiel dem vom Temperament her so wenig auf Triumph geeichten Komponisten schwer und es gelang ihm, einmal in seinem Leben ein ganz großes Finale zu schreiben. Wer diese Musik mit einer solchen Überzeugung zu dirigieren versteht wie Rattle und dafür solch hingebungsvolle Musiker im Orchester hat wie er, der darf dieses mitunter zu oft gespielte Werk auch noch einmal dirigieren.

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