Neue Wege ausloten und aufdecken, welche Brisanz klassische Opernstoffe in der heutigen Zeit entwickeln können. Das ist stetiges Anliegen der jungen italienischen Regisseurin Ilaria Lanzino, die an verschiedenen europäischen Opernhäusern aktiv ist und 2020 mit dem Ersten Platz im renommierten Europäischen Opernregie-Preis ausgezeichnet wurde. Am Staatstheater Nürnberg arbeitet sie nun bereits zum sechsten Mal, u.a. nach Donizettis L’elisir d’amore und Lucia di Lammermoor.

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Laura Hilden, Sara Šetar, Wonyong Kang, Andromahi Raptis, Kellan Dunlap, Sergei Nikolaev
© Pedro Malinowksi

Mit La traviata (ital: die vom Weg Abgekommene) hielt Giuseppe Verdi 1853 auf dem Höhepunkt seiner Popularität seinen Zeitgenossen einen Spiegel vor: zu sehen darin waren Doppelmoral und ein fragwürdiges Wertesystem. Für Lanzino bleibt Violetta nicht allein Kurtisane im 19. Jahrhundert. Sie wird eine verliebte junge, lebenslustige Frau, bis zu dem Moment, der ihr Leben verändert. Betrunken auf einer Party, wird sie von mehreren Männern missbraucht, gefilmt und ins Netz gestellt. Die Veröffentlichung dieses Videos setzt eine Dynamik in Gang, die sich nicht mehr stoppen lässt und unter der heute Mädchen bereits allzu oft zu leiden haben. Gesellschaftliche Ausgrenzung durch die Klassenschranken des 19. Jahrhunderts hat sich gewandelt zu den unbarmherzigen Strukturen eines World Wide Web, in den Shitstorms über Smartphones und digitaler Stigmatisierung.

Andromahi Raptis (Violetta) und Sergei Nikolaev (Alfredo) © Pedro Malinowksi
Andromahi Raptis (Violetta) und Sergei Nikolaev (Alfredo)
© Pedro Malinowksi

Einmal viral, nie mehr vergessen. Violetta versucht, sich ihr Leben zurückzuerobern, hofft auf die Chancen eines unbeschwerten Lebens mit Alfredo Germont, eine neue Bindung mit einem intakten Familienkreis. Doch der Verlobte von Alfredos Schwester findet das Video, lehnt die Heirat ab, solange Violetta und Alfredo liiert sind. Vater Giorgio Germont, um das Familienglück besorgt, sucht Violetta auf und redet auf sie ein, die Verbindung mit Alfredo zu lösen; bietet ihr sogar Geld, mit dem sie ein neues Leben beginnen könne, was sie entrüstet ablehnt. Doch sie realisiert, dass gegen den Druck der Familie ihre Liaison keine Chance hat. Sie willigt in die Trennung ein, indem sie Alfredo schreibt, dass sie ihn aus Liebe verlässt, um seinem Glück nicht im Wege zu stehen. Erneuter Kontakt zu früheren Cliquen lassen sie dann verwahrlosen, vom hoffnungsvollen Weg abkommen.

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Sophie Czerwinski, Sergei Nikolaev (Alfredo), Sangmin Lee (Germont), Andrea Schwendtner
© Pedro Malinowksi

Martin Hickmanns Bühne ist eine breite schwarze Treppe, die, wie auf Balkonen, Stationen für die einzelnen Bilder enthält. Sie bietet gleichzeitig Projektionsfläche für die belastenden Videosequenzen oder digitales Rauschen, das das Geschehen mit einer nichtssagend durchlaufenden Streifenoptik durchzieht und die Spielfläche wenig fantasieanregend macht. Mit der Liebesgeschichte im schäbigen Milieu eines sprayverschmierten Toilettenabteils wird man nicht warm. Wie ein Fremdkörper das hell erleuchtete, antiquierte Wohnzimmer der Germonts, in dem die Tochter mit dem Brautkleid posiert und die Mutter ebenfalls in geschäftiger, stummer Rolle agiert. In Carola Volles’ Kostümen, Tattoos und Haarmähnen spiegeln sich Modetrends der letzten Dekade. Mit dem überwiegend jungen Ensemble des Staatstheaters hat Lanzino intensiv am rasanten Move und eindeutiger Gestik gearbeitet: in die vordergründige Glitzerwelt von Diskotheken oder Dancefloors bringen sich auch Statisterie und die Sänger des Opernchores bewegungsstark und mit vokaler Verve ein.

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Andromahi Raptis (Violetta)
© Pedro Malinowksi

Andromahi Raptis, selbst im Alter einer Betroffenen, spielt keine Primadonna in dieser Rolle. Sie ist Jugend von heute, vergrub sich anfangs in einen weitgeschnittenen Bunny Overall, später in wehenden Pullis, löchriger Strumpfhose und Lederstiefeln. Ihre flexible Stimme dosierte sie in der Höhe eher vorsichtig, bot im mittleren Register einen wunderbar volltönenden, bezaubernden Ausdruck. Da wurde man geradezu an ihre blutvolle Maria in der West Side Story erinnert, die ein ähnlich kompromisslos körperliches Spiel zeigte. Aus fast gleichem Holz, und doch eine Spur biederer, Sergei Nikolaev als Alfredo, der die Bande zum erdrückenden Familienclan nicht kappen, die vorgezeichneten Lebensweg nicht verlassen will. Sein kerniger, in der Höhe dunkel timbrierter Tenor verschmolz bestens in den Duetten mit Violetta.

Den Wandel von Giorgios Einstellung zu Violetta machte Sangmin Lee geschmeidig und in differenziert-sensibler baritonaler Färbung deutlich: auch wenn er wie ein starrer Fremdkörper in der Menge der Jugendlichen wirkte, wollte er am Ende um Entschuldigung bitten. Ohne auf intensitätsreichen Verdi-Drive zu verzichten, hielt Björn Huestege am Pult der Staatsphilharmonie Nürnberg seine Musiker auf sängerfreundlichem Niveau. Wunderbare Einwürfe von Instrumentalsolisten, insbesondere der Harfenistin, bescherten kostbare Momente des Innehaltens; gerade die Introduktion der seidig glänzenden Streicher zum dritten Akt wurde zum Erlebnis.

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Andromahi Raptis (Violetta) und Sangmin Lee (Germont)
© Pedro Malinowksi

Anders als in der Dichtung des Librettisten Francesco Maria Piave, wo dessen zeitgenössische Violetta letztendlich an Tuberkulose stirbt und Giorgio eine anders begründete Einschätzung einer möglichen Schwiegertochter trifft, ist es hier Depression und psychische Zerstörung durch Selbstverlust und Isolation, an denen Violetta stirbt. Die Bühne im dritten Akt ist fast leer geräumt, kein digitales Flimmern an den Wänden mehr; allein ein intensivmedizinisches Krankenbett, in dem Violetta schläft. Genauer, ihr zerschundener Körper, den die singende Violetta wie von außen betrachtet. Freunde bemühen sich um die Todkranke, schließlich ist auch der Defibrillator machtlos. Giorgio kann nicht mehr Abbitte leisten bei ihr; die singende Violetta legt die Hände von Alfredo und seiner neuen Freundin zusammen, was zum unnötig kitschigen Moment mutiert.

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Sergei Nikolaev (Alfredo) und Andromahi Raptis (Violetta)
© Pedro Malinowksi

In den frenetischen Schlussbeifall für die Sänger mischten sich kräftige Buhs für das Regieteam. Zu konstruiert erschien der Plot manchem langjährigen Operngänger, die südländische Leidenschaft von Verdis Musik zu wenig im Einklang mit der düsteren Netzwelt unserer Tage. Was ein moderner Komponist aus solchem Stoff wohl machen würde?

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