Sie wird in einem Zug mit Beethovens Missa Solemnis und Brahms' Deutschem Requiem genannt: Johann Sebastian Bachs Hohe Messe h-Moll ist ein Monolith unter den Vokalkompositionen, erscheint vom Komponisten wie in einem Zug aufgeschrieben. Zu Lebzeiten Bachs wurde sie nie aufgeführt, die Söhne verkauften die Notenblätter lieber anstatt aus ihnen Musik zu machen. Als 1818, fast siebzig Jahre nach Bachs Tod, der Schweizer Verleger Nägeli sie erstmals als Gesamtausgabe zu drucken plante, kündigte er „das größte musikalische Kunstwerk aller Zeiten und Völker“ an. Ist sie wirklich so sehr aus einem Guss? Für die Aufführung bei den Salzburger Festspielen war das Collegium Vocale Gent aus Belgien angereist.

Einzelne Teile der Messe begleiteten Bach schon viele Jahre. 1724 schrieb er bereits für den Leipziger Weihnachtsgottesdienst das Sanctus. Mit einer Missa Brevis aus Kyrie und Gloria bewarb er sich 1733 um den Rang eines Hofkomponisten in Dresden, wo große katholische Messen in der Hofkirche aufgeführt wurden; diese Teile gingen später in die Hohe Messe ein. Über den Anlass zur Vervollständigung kann man nur mutmaßen; immerhin hatte der erzprotestantische Bach bis dahin nur Kantaten und kurze Ordinarien geschrieben. Um 1749 war er bereits körperlich angeschlagen, die Leipziger Ratsmitglieder führten Probevorspiele möglicher Nachfolger durch. Bach, zeitlebens eine Kämpfernatur, könnte eine Lebensbilanz geplant haben, ein neu zusammengesetztes Mosaik eigener Werke. Dabei setzte er kunstvolle Ergänzung, auch der Instrumentierung, Tonartenänderung und Parodie durch Umdichtung früherer Texte ein, wie er sie meisterhaft beherrschte.

Das Collegium Vocale Gent ist ein 24-köpfiges Orchester ausgezeichneter Instrumentalisten, deren Beiträge solistisch oder im instrumentalen Tutti kammermusikalisch intensiv und von höchster Transparenz und Spannung waren. Ganz im Sinne Bachs, der oft keinen zwingenden Unterschied zwischen Soli und fähigen Chorsängern machte, waren die fünf Vokalsolisten ins 18-stimmige Collegium Vocale integriert, hatten im Halbkreis um das Orchester Aufstellung genommen. Philippe Herreweghe ist einer der Doyens der historisch informierten Aufführungspraxis, hatte an Harnoncourts Gesamteinspielung der Bachkantaten mitgewirkt und inzwischen selbst charakteristische Aufnahmen der geistlichen Werke Bachs vorgelegt, diese transparente und schlanke Sichtweise aber auch in romantische Symphonien eines Bruckners oder Mahlers übernommen.

Die h-Moll-Introduktion aller Stimmen am Beginn des Kyrie nahm er noch feierlich, ging dann zügig in die lange Orchestereinleitung, auf der der Chor eine umfängliche fünfstimmige Fuge mit klarer verständlicher Diktion aufbauen konnte. Nach instrumentalem Zwischenspiel dann ein weiterer Fugenkomplex, den die Singstimmen in veränderter Reihenfolge und neuem kontrapunktischen Spiel zusammensetzten, kunstvoll und modulationsreich bis zum Satzschluss ergreifend steigerten. Ohne Taktstock formte Herreweghe dabei den Klangausdruck wie ein Bildhauer mit den Händen, setzte raffiniert wischende Bewegung des Unterarms ein, gab der Redensart „aus dem Ärmel schütteln“ neue fordernde Rhetorik.

Dorothée Mields und Margot Oitzinger gestalteten berührend im Christe eleison ein lyrisches erstes Duett, innig und gefühlvoll um die Bitte nach Vergebung wissend. In zartem Piano legten die Streicher einen atmosphärischen Klangteppich für die Sängerinnen aus, der von Bach wohl intendierten Zwiesprache von Gottvater und Sohn den Vortritt lassend. Zusammen mit Thomas Hobbs und Alex Potter gab Mields auch den Duetten im Gloria und Credo beeindruckende Gestalt, setzten die herrlichen Solostimmen durch unangestrengte Koloratur schwerelos auf das Primat der Klangrede. Zu einem Höhepunkt wurde auch Oitzingers Laudamus te, wo das Lob Gottes in der Virtuosität der konzertierenden Violine (Batiste Lopez) und der glasklar expressiven Sopranstimme Ausdruck fand.

Mit festlichem Streicherklang, nun ins parallele D-dur gewendet, und zupackenden Trompetensignalen wurde das Gloria angestimmt, nahmen die Soprane noch zurückhaltend die frohbewegte Huldigung Gottes auf, kanonisch gefolgt von absolut textverständlichen Einsätzen der tiefen Stimmen. Die sich daraus entwickelnde Fuge steigerte sich zum Fortejubel, bei dem die letztlich befreienden Freudenraketen nicht mehr zündeten. Dieser Eindruck blieb auch beim Credo haften, insbesondere im vielschichtigen Confiteor, in dem gregorianische und Renaissanceklänge aufeinandertreffen und mit barocker Choralmusik verwoben werden. Die Vokalisten waren im steinernen Bühnenrund der Felsenreitschule benachteiligt, die Ansätze von Konturen nivellierte. Zu viele Stellen verharrten gefühlt zwischen Mezzopiano und Mezzoforte, erschienen als edles Filigran, ließen dem vielfältig schillernden Werk nur wenige markante vokale Kontraste. Ob sich der erdverbundene Bach in dieser milden Lebensessenz erkannt hätte?

So blieben herausragende Arien als effektvolle Glanzlichter in Erinnerung: Alex Potters Altus, der in Zwiesprache mit der anrührenden Melodie der Oboe d'amore (Marcel Ponseele) im Qui sedes den Textinhalt dramatisch und atemberaubend brillant ausdeutete, beim ungewohnten g-Moll des Agnus Dei im schmerzlichen Ausdruck menschlicher Schuld berührte. Thomas Hobbs drückte im Benedictus den Willkommensgruß glaubhaft, ja freudig und heiter aus. Dagegen konnte man Peter Kooijs Beiträge zwar als gediegen ansehen, sie ließen allerdings emotionale Durchdringung vermissen. Im Quoniam schlug das begleitende Naturhorn (Bart Cypers) jedenfalls mehr Funken als der Bassist.

Wie in England während Aufführungen von Händels Messias im Halleluja: beim abschließenden Dona nobis pacem hätte man aufstehen und mitsingen wollen, wenn die Choreinsätze vom Bass zum Sopran ebenso ansteigen wie die ergreifende Melodielinie von tiefen zu immer höheren Tönen sich aufschwingt!

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