Übertriebene Zurückhaltung kann man Ferruccio Busoni bei der Komposition seines Konzertes für Klavier und Orchester mit Männerchor wahrlich nicht vorwerfen. Fulminanter Klavierbeginn, zahlreiche Zitate und zum Abschluss ein Herrenchor, der gottpreisend von nicht weniger als von der „ewigen Kraft [der] Herzen“ singt – das „Wolkenkratzer-Werk“, wie es der italienisch-deutsche Komponist selbst nannte, ist schon aufgrund seiner schieren Ausmaße ein Erlebnis, insbesondere dann, wenn es von Sir Antonio Pappano und Igor Levit dargeboten wird. Vor zweieinhalb nahm sich das Duo das Mammut-Werk im Rahmen einer Konzerttournee der Accademia Nazionale di Santa Cecilia das erste Mal vor die Brust, nun in gleich drei (ausverkauften) Konzerten mit dem Gewandhausorchester in Leipzig.

Fast 80 Minuten Klavierkonzert. Was monumental klingt, beginnt mit malerischen Streicherklängen. Mit geschmeidigen Handbewegungen formt Pappano einen feinen, schlanken Klang. Wenig Naturgewalt, stattdessen zarte Landschaftsbeschreibung. Unwillkürlich fühlt man sich erinnert an die eisige Natur an diesem Wintersonntagmorgen im Leipziger Umland. Wie der gefrorene Reif im Sonnenlicht funkeln die Töne, die eine erhabene Noblesse zu verströmen scheinen. Erst nach gut fünf Minuten setzt auch der Solist zum ersten Mal in den instrumentalen Chor ein.
Energisch und sich dennoch nicht übermäßig in den Vordergrund drängend mit energetischer Körpersprache formt Levit seinen Einstieg in das Werk. Mal nahezu kontemplativ-meditierend, mal impulsiv entspannt sich im Folgenden während des ersten Satzes ein Dialog zwischen dem Klaviersolisten, einzelnen Instrumenten und dem ganzen Orchester. Dabei schafft Antonio Pappano am Pult des Gewandhausorchesters eine feine Balance zwischen den verschiedenen Akteuren, gibt dem Solisten Raum und nimmt ihn sich für das Orchester. Immer wieder werfen sich Dirigent und Solist dabei vielsagende Blicke vor. Man merkt: Diese beiden haben ein Herz an Busoni und sein Klavierkonzert, das eher eine Symphonie mit obligatem Klavierpart ist, verloren.
Fein ausdifferenziert und farbenreich gestaltet Levit sein Spiel auch im zweiten Satz. Kraftvoll und klar klingt auch das Zusammenspiel im ausladenden dritten Satz, der sich in vier Abschnitte teilt. Geschickt hält Pappano die Fäden in der Hand. Sorgsam spinnt der Brite mit italienischen Wurzeln einen umfassenden Spannungsbogen; strafft diesen, um die Längen der Komposition zu überdecken, mit der Busoni nicht weniger als die bisherige Entwicklung bündeln und seine Weltanschauung zum Ausdruck bringen wollte. Insgesamt wirkt die Interpretation dennoch gezügelter als noch vor zweieinhalb Jahren mit der Accademia Nazionale di Santa Cecilia. So galoppiert das Gewandhausorchester möglicherweise auch temperamentsbedingt mehr mit deutscher Akkuratesse denn italienischer Verve durch die Tarantella des vierten Satzes.
Mit gestochener Transparenz bauen Pappano und Levit so das mächtige Finale des vorletzten Satzes auf – doch ehe dieses zum Höhepunkt kommen kann, verklingt die Musik. An das Ende seines Werkes hat Busoni einen Männerchor gesetzt, der Zeilen aus dem letzten Akt des dramatischen Gedichts Aladdin oder die Wunderlampe des dänischen Autors Adam Gottlob Oehlenschläger singt. Auch an diesem Tag klingt das eher wie ein Fremdkörper. Das liegt wahrlich nicht an den Mühen des MDR-Rundfunkchores und des Gewandhauschores, sondern an der verzweifelt mehr wollenden Komposition. Mehr ist jedoch nicht immer mehr – aber wenn es so fein gestaltet wird wie von dem Gewandhausorchester unter Leitung von Sir Antonio Pappano und Igor Levit am Klavier ist es dennoch allen Hörens wert.