1973 gründete der damals 20-jährige Musikwissenschaftler Peter Phillips das Vokalensemble The Tallis Scholars. Seit 1982 ist die Altistin Caroline Trevor schon dabei, die übrigen Sänger sind teilweise erst in den letzten Jahren dazugekommen, was dem Ensemble eine angenehm junge Ausstrahlung verleiht. Nicht weniger als 2.300 Konzerte hat der weltweit gefeierte Chor im vergangenen halben Jahrhundert gegeben. In einem monumentalen Projekt zum 500. Geburtstag von Josquin des Prez sangen The Tallis Scholars im Juli letzten Jahres in Berlin und in diesem Sommer in Utrecht vier Tage lang alle achtzehn Messen des Komponisten.

Mit der aktuellen „Celebrations” genannten Tournee feiern The Tallis Scholars, die für ihren transparenten Klang und eine äußerst klare und kontrollierte Linienführung bekannt sind, nun ihr 50-jähriges Bestehen. Zu diesem Anlass präsentierten sie unter Leitung von Philips im Muziekgebouw am Amsterdamer Hafen einen Querschnitt ihres breiten Repertoires: Werke von Großmeistern der Renaissance und zeitgenössische Stücke von Nico Muhly, John Rutter und Arvo Pärt.
In der ersten Hälfte des Programms mit Werken von Gibbons, Tallis und Byrd war Rough Notes von Muhly die mit Abstand beeindruckendste Komposition. Diese Auftragskomposition aus dem Jahre 2018 vertont einige der letzten Tagebucheintragungen des britischen Polarforschers Robert Falcon Scott, der 1912 nur wenige Wochen nach dem Norweger Roald Amundsen den Südpol erreichte. Den Rückweg zum Basislager überlebten er und seine Kollegen nicht: „Wir haben Risiken auf uns genommen, [und] wir wussten, dass wir sie auf uns nahmen; die Dinge haben sich gegen uns gewendet und deshalb gibt es keinen Grund zur Klage für uns“, heißt es in Scotts Tagebuch.
Mit raffiniertem Klangfarbenspiel bildet Muhly erst das filigrane Polarlicht musikalisch nach. Das zuerst von den Altstimmen intonierte „Tonight“ wandert filigran durch alle Stimmen und macht den historischen Text beklemmend aktuell. Nachdem in den vorhergegangenen Stücken von Gibbons und Tallis Gottesfürchtigkeit vom sehr zurückhaltend dirigierenden Philips meditativ und mit wenig dynamischen Impulsen ausgelegt wurde, zeichnete er nun ein viel spannenderes Gesicht hoher A-cappella Kunst.
Nach der Pause wirkten die Scholars wie ausgewechselt. In Giovanni Palestrinas Tu es Petrus klangen alle Stimmen kräftiger und schallte der Text aus dem Mattheus Evangelium laut und freudig wie von unerschrockenen Himmelsstürmern. Für John Rutters anschließende Hymne Hymn to the Creator of Light für Doppelchor wechselten die Sänger dementsprechend die Aufstellung. Es spricht für die stimmliche Meisterschaft dieses Ensembles, dass diese einfachbesetzte Ausführung keine Wünsche offen ließ im Vergleich zu einer größer besetzten Chorfassung.
Sowohl Josquin des Prezs Absalon fili mi als auch das Lugebat David Absalon seines Schülers Nicolas Gombert vertonen die Trauer von König David um seinen gefallenen Sohn Absalon. Wurde Gomberts Stück mit mitreißenden dynamischen Differenzierungen mit zwei Sopranen weniger und also nur mit acht Sängern ausgeführt, standen für die älteste Komposition des Abends nur noch ein Gesangsquartett auf der Bühne. Wieder war es die Altstimme, die mutig voranging im meist intimen musikalischen Momentum des Abends. Der blau beleuchtete Bühnenhintergrund verklärte sich unter den getragenen Renaissanceklängen in die Abtei eines erträumten mittelalterlichen Klosters.
Den begeisternden Schlusspunkt setzten The Tallis Scholars mit Arvo Pärts Which Was the Son of... Für die Aufzählung von Jesus‘ Vorväter von Josef bis hin zu Adam aus dem Evangelium nach Lucas zogen Philips und seine nun wieder zehn Sänger noch einmal alle Register ihres virtuosen stimmlichen Könnens und brillierten mit blitzsauberen Harmonien in dieser abwechslungsreichen rhythmisch akzentuierten Chorkomposition. Als Zugabe gab es noch weiteres Mal Stimmenzauber aus der Feder Pärts: dessen Bogorodice dievo (Ave Maria).