Vor genau zwei Jahren ging Nadav Zelners Bedtime Story in Den Haag beim Nederlands Dans Theater | NDT 2 in Premiere und begeisterte Publikum und Fachleute. Die Fluktuation innerhalb dieser erfolgreichen Niederländischen Kompanie für begabte Nachwuchstänzer ist so hoch, dass von den damaligen Tänzern nun schon niemand mehr dabei war. Trotzdem war gerade dieses Stück einmal mehr der rauschende Höhepunkt eines avantgardistischen Premierenabends.

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Bedtime Story
© Rahi Rezvani

Wie die dreizehn jungen Tänzer Hip-Hop-Tanzbewegungen mit virtuosen Ballettsprüngen und rasend schneller Akrobatik verbinden, das geht unter die Haut. Auf die energiegeladene, teilweise aus Liveaufnahmen bestehende Musik aus dem Nahen Osten (u.a. Libanon, Tunesien und Syrien) versprühten die von rechts und links in atemloser Abfolge das Podium bestürmenden Tänzer*innen einen unbezähmbaren Enthusiasmus. Sie erzählten in kurzen Soli (überzeugend elegant und raumgreifend sowohl Casper Mott als auch Gabrielle Rolle: beispielhaft für alle anderen) und Duetten ihre Geschichten mit beneidenswerter Lockerheit und verführerischer Überzeugungskraft. Dabei kamen so beinah alle Tanzstile vorbei – selbst eine Polonaise macht mit schnellen schlangenähnlichen Bewegungen ihre Aufwartung.

Zelner beschreibt in seiner suggestiven bilderreichen Choreographie den Moment direkt nach dem Aufwachen, wenn nächtliche Erinnerungsfetzen noch durch unser Gedächtnis spuken. Maor Zabars fantasiereiche Kostüme bestreichen darum humoristisch die ganze Palette handelsüblicher Bettkleidung vom beinlangen Nachthemd bis zum Baby Doll. Tim Vissers Beleuchtung taucht die kahle Bühne spelunkenhaft in immer neue absurde Traumszenarien, in denen grässliches Grauen und erotisches Ersehnen einander pausenlos abwechselten. NDT 2 war mit Bedtime Story gerade auf einer Asientournee und durch die so erreichte perfekte Feinabstimmung war es nicht nur eine Augenweide sondern vor allem ein ansteckender Energiespender.

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Lights, Camera, Dismantled
© Rahi Rezvani

Der Abend begann mit zwei Premieren, die beide auf ihre eigen Art mit individualistischen Tanzbewegungen experimentierten. Die aus Los Angeles stammende Choreographin und Tänzerin Micaela Taylor bekam schon im Alter von 25 Jahren öffentliche Anerkennung für ihren neuartigen Bewegungsstil, den sie „expand practice” nennt. Heute mit beinahe 30 Jahren möchte sie nicht nur ihre eigene Kompanie, das TL Collective, eine der größten Tanzkompanien in L.A werden lassen, sondern auch eine erfolgreiche Choreographin für Fernsehen, Film und Musik werden.

In ihrer gesellschaftskritischen Choreographie Lights, Camera, Dismantled, einer Abwandlung des auf Filmsets gebräuchlichen „Lights, Camera, Action“ nimmt Taylor den gnadenlosen Konkurrenzkampf in Hollywood unter die Lupe. Die Soli entarten in pure Selbstdarstellung und der einzige intime Duettmoment endet mit einem hässlichen Dolchstoß in den Rücken der gerade noch liebevoll Getrösteten.

<i>Codes of Conduct</i> &copy; Rahi Rezvani
Codes of Conduct
© Rahi Rezvani

Das NDT hat Jermaine Spivey mit einer erweiterten Version seines Code of Conduct auf die Amare-Bühne eingeladen, das vor einem Jahr auf einem Nachwuchsfestival für Choreographen entstanden war. „Bei Code of Conduct ging es mir darum, Körperlichkeit durch choreographische und improvisierte Strukturen zu definieren”, sagt Spivey. „Die Strukturen verlangen Strenge, Sensibilität und Reaktionsfähigkeit.”

In Codes of Conduct wird unkonventionell improvisiert. Das bedeutet, dass nichts von der Choreographie oder dem „Material” wirklich festgelegt ist. Jede Tänzerin und und jeder Tänzer bewegt sich auf seine unverwechselbar eigene Art, hält dabei aber ständig die Gruppe im Auge, um sich darauf anpassend reagieren zu können. Die hyperindividualistischen selbstbewussten Soli bleiben auf sich selbst bezogen in Wiederholungen stecken. Dazu klingen die immer selben Wortfetzen („because, you should”) bis zur Unkenntlichkeit im Musikcomputer verzerrt aus den Lautsprechern. Spiveys unkonventionelles anspruchsvolles Tanztheaterstück wirkte wie ein Aufruf zu mehr Mut zu Eigenheit und persönlicher Freiheit jenseits der in den sozialen Medien herrschenden Gruppenzwänge.

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