Der 1925 im französischen Montbrison an der Loire geborene Pierre Boulez war in Baden-Baden zuhause. Obwohl ein Weltbürger der Kultur lebte er über 50 Jahre in der badischen Kurstadt, deren Ehrenbürger er war und wo er im Januar 2016 verstarb. Von hier aus entfaltete er seine vielfältigen kreativen Tätigkeiten als Komponist, Dirigent und Impulsgeber der musikalischen Moderne. In diesem Jahr wäre er Hundert geworden. So hat das Festspielhaus in Baden-Baden die diesjährigen Pfingstfestspiele dieser überragenden Musikergestalt des 20. Jahrhunderts gewidmet. Zu einem der Konzerte war Pierre-Laurent Aimard gekommen, den mit Boulez eine langjährige Freundschaft verband.

Es gibt in Baden-Baden keinen Pierre Boulez Saal wie in Berlin. Und weil ein Kammermusiksaal in dem großen Konzerthaus fehlt, wurde die Bühne zum Konzertpodium: Platz für einen Flügel und Sitze für rund 250 Zuhörerinnen und Zuhörer. Enge Tuchfühlung zwischen Solist und Publikum erzwang hohe Konzentration nicht allein auf die Musik selbst; auch wie der Solist sie entstehen ließ, sie förmlich vor den Augen der Zuhörenden erarbeitete und im wahrsten Sinne vortrug, quasi mit dem ganzen Körper und sprechender Mimik. Das ermöglichte ein intensives Verfolgen der Klangereignisse in ihre vielfältigen Dimensionen hinein. Denn es hieß bei diesem Programm, von lieb gewordenen Hörgewohnheiten Abschied zu nehmen. Dies war keine Musik für das mitfühlende Herz, sondern für das denkende Ohr.
Pierre Boulez' Dritte Klaviersonate bildete das Zentrum, darum versammelt waren Komponisten, die gleichsam zu Leuchttürmen der Moderne auf seinem eigenen Weg der Entwicklung als Musiker geworden waren. Zuerst Claude Debussy, den Boulez für seine Unabhängigkeit von tradierten Bindungen im Kompositionsprozess bewunderte. In dreien seiner Études aus dem Spätwerk (1915) zeigte Aimard, was diese Freiheit bei Debussy bedeutet: Loslösung von außermusikalischen Inhalten und freies Spiel rein musikalischer Formprinzipien, etwa mit Intervallen oder Klangfarben. All dies findet sich in Boulez' eigenen Kompostionen als strukturelles Prinzip wieder.
Es folgte Anton von Webern, den Boulez als die „Schwelle zur Moderne” bezeichnete, weil er sich vollständig gegen alle ererbte Rhetorik zur Wehr gesetzt habe. Nicht allein die aphoristische Kürze seiner Musiksprache, auch seine Klangdramaturgie sah Boulez als Vorbild an. Aimard zeigte dies beispielhaft in den Variationen, Op.27 auf, drei extrem kurzen Stücken mit äußerst vertrackter Rhythmik und blitzschnell hin- und herspringenen Klangfiguren und immer wieder Haltepunkten der Stille. Phänomenal, mit welcher Sicherheit und zugleich in welcher Klarheit der Pianist in diesen ungemein artifiziellen Miniaturen auch Poesie aufscheinen ließ.
Nun waren die Ohren geöffnet für Boulez' eigene Komposition, seine legendäre Dritte Klaviersonate, ein Werk, das völlig aus dem Rahmen jeglicher Tradition fällt, allein schon, weil es absichtlich unvollendet ist. Boulez arbeitete in Abständen zwischen 1955 und 1958 daran. Er verstand es als ein work in progress, dem er bewusst nie eine endgültige Form gab. Nach der Aufführung konnte das Publikum in die Partitur blicken: Ohne Taktstriche in drei Systemen notiert, zeigt sich ein Bild beinahe wie eine abstrakte Zeichnung, fast wie ein Labyrinth aus Noten, in dem der Interpret sich seinen eigenen Weg suchen muss. Lediglich Pfeile verweisen auf innere Bezüge der Töne untereinander. Auf den ersten Blick scheint ein solcher Noten-Plan unspielbar, aber Aimard ist so vertraut damit, dass er unter seinen Händen zu einer faszinierend tönenden Reise in unbekannte Welten aus Klängen und Rhythmen wurde.
Nach einer Pause kam Arnold Schönberg musikalisch zu Wort, der für Boulez nicht uneingeschränkt zum Vorbild geworden war. Aber der Gedanke der Gleichwertigkeit aller zwölf Töne der chromatischen Tonleiter und damit verbunden das Prinzip daraus gebildeter Reihen war bestimmend für Pierre Boulez' frühe Kompositionen. Pierre-Laurent Aimard gelang es, in Schönbergs Fünf Klavierstücken, Op.23 die Abstraktion der musikalischen Faktur durch sein Spiel in sprechenden Klang zu überführen, wie im letzten Stück, einem Walzer, der eine einzige Zwölftonreihe im 6/8-Takt charmant variiert.
Maurice Ravels Klavierzyklus Miroirs dagegen ist semantisch festgelegte Musik, die Assoziationen auslöst, Musik wie sie Boulez nicht komponiert hat. Aber als Dirigent hat er sich intensiv mit Ravel auseinandergesetzt, der daher zurecht in diesem Programm vertreten war; zumal im Jahre seines 150. Geburtstages. Und nach aller musikalischen Abstraktion zuvor ließ Pierre-Laurent Aimard nun die Bildkraft dieser Musik aufs Schönste erstehen.