Raw are the roots (Rau sind die Ursprünge), der Titel des neuen Programms des Niederländischen Tanztheaters hätte treffender kaum sein können. Die Körperbeherrschung individueller Tänzer, die choreographierten Bewegungsabläufe im Ensemble, Musik, Licht und Kostüme waren jeweils von solch ursprünglicher Vehemenz und Ausdruckskraft, dass das auffallend junge Publikum am Ende zu Recht in Jubelstürme ausbrach.

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I contain multitudes
© Rahi Rezvani

I contain multitudes ist Felix Landerers erste Chorographie für das NDT 1. Den poetischen Titel für sein Werk hat Landerer Walt Whitmans Gedicht Song of Myself (1855) entnommen. Dort heißt es in der vorletzten, 51. Strophe: „Do I contradict myself? Very well then I contradict myself, (I am large, I contain multitudes.)” Landerer erforscht Individualität versus Konformität in diesem fesselnden Werk, das er zusammen mit zwölf NDT-Tänzern entwickelte. Zusammen beleuchten sie die vielfältigen Charakterzüge und Ausdrucksmöglichkeiten, die in einer Person stecken und die daraus entstehende Komplexität und Widersprüche. I contain multitudes ist eine Hymne auf unsere individuelle Einzigartigkeit und weist mit effektiven künstlerischen Mitteln auf die gesellschaftliche Toleranz, die nötig ist, um diese zu gewährleisten.

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I contain multitudes
© Rahi Rezvani

Gymnastische Skurrilität. Neben solistischen Aktionen und akrobatischen Fallbewegungen mit präzise austarierten Absorptionen einzelner Körperteile fielen vor allem die organischen Gruppenbewegungen ins Auge. Auf die elektronische, ständig pulsierende Trancemusik von Landerers Hauskomponisten Christof Littmann formiert sich regelmäßig eine Phalanx von Tänzern im Gleichschritt, der sich immer wieder selbst unterbricht, um die Ecke biegt oder durch einen äußeren Widerstand aus der Kurve fliegt. Im Verlauf des 40-minütigen Stücks wiederholen sich diese Gruppenbilder ebenso wie ein improvisiertes gemeinsames Laufen, bei dem alle zwölf Tänzer scheinbar willkürlich die große leere Bühne durchkreuzen, die nur im Hintergrund von einer zur Mitte nach hinten hin schmal zulaufenden Wand begrenzt wurde. Darüber hängen zwölf Röhrenlampen, die an einem liegendem „V” – für victory? – befestigt sind. Obwohl nicht alle Aktionen voll von miteinander vergleichbarer Intensität strotzen, verging die getanzte Zeit wie im Flug.

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Jakie
© Rahi Rezvani

Brodelnde Energie. Nach der Pause war die Hälfte der bei Landerer eingesetzten Tänzer auch Teil des diesmal 16-köpfigen NDT-Ensembles in der kraftraubenden Uraufführung Jakie von Sharon Eyal und Gai Behar. Dieses besonders innovative Choreographenduo kreierte für das NDT 1 2015 Bedroom Folk und im Jahr darauf Salt Womb. Auch für Jakie kam die Musik von Ori Lichtik, der seine Musik zeitgleich zur Probenarbeit aus einem Song der Einstürzenden Neubauten, GS1 gemixt hatte. Der dazugehörende gesellschaftskritische Text gegen Ausgrenzung passte auf geniale Weise zu Whitmans genau 150 Jahre eher geschriebenem Gedicht.

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Jakie
© Rahi Rezvani

Aus der diffusen Anfangsbeleuchtung schält sich langsam eine dicke Traube schaukelnder auf ihren Zehenspitzen balancierender Leiber. Wie schon in Bedroom Folk lösen sich einzelne Tänzer aus der eng umeinander tanzenden Gruppe um nach ekstatischem Solo wieder in den Schoß des Ensembles zurückzufallen. Durch Eyals hautenge Kostüme und die lauten erotisierenden Beats von Lichtiks hypnotisierender Musik sprengt Jakie den Rahmen eines herkömmlichen Tanzabends. Es war gleichwohl ästhetische Erotik mit Verweisungen auf griechische Vasenbilder, brodelnde Energie, aufwühlende Frühlingsrituale und eine mitreißende Ensembleeinheit in atemloser Fahrt.

Rau und unvergesslich sind solche Ursprünge!

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