Bisher war es so, dass die Magdeburger Telemann-Festtage nur alle zwei Jahre stattfanden. Zu schade bei der Fülle an Schaffenskraft und leider mitunter noch immer zu bewältigenden Geradebiegung des Stellenwertes des Komponisten, dachte sich nun auch der Stadtrat, der fortan die jährliche Ausrichtung beschloss. 2017, gerade im großen Jubiläumsjahr, war also nochmals Festivalpause, dafür neben den zahlreichen anderen Veranstaltungen jetzt schließlich Gelegenheit und doppelt Freude, konzentriert nachzufeiern. Nicht fehlen darf zu diesem Zeitpunkt die Passions- und Oratoriumsmusik Telemanns, die nach der Wiederbelebung Bachs ebenfalls in dessen Schatten zu stehen scheint.

Dabei ist auch in dieser Gattung von Aufführungen Bachs in Leipzig bekannt, zuvorderst vom populärsten Schlager der Brockes-Passion, die es zumindest zu einer gewissen Verbreitung gebracht hat. Telemann schrieb jedoch zahlreiche musikalische Erzählungen der Leidensgeschichte Jesu, mindestens sechsundvierzig, jedes Jahr eine im Wechsel der Evangelienberichte. Fast die Hälfte ist verschollen, die anderen haben es trotz zum Teil vorliegender Aufnahmen noch nicht ganz ins Repertoire-Muss zu Ostern geschafft. Darunter befindet sich die Johannespassion von 1745, die das belgische Ensemble Les Muffatti unter der Leitung Bart Naessens' jetzt wieder in historischer Instrumentierung erklingen ließ.

Ihr zugrunde liegt ein Text vom Hamburger Pastor Joachim Johann Daniel Zimmermann, der gerne und zahlreich Textgrundlagen für verschiedene geistliche und weltliche Werke Telemanns lieferte. Wie der Komponist selbst, betätigte er sich als Dichter, der es – gemäß der Beleuchtung des diejährigen Mottos der Festtage „Voller Poesie“ – verstand, den richtigen Ton in seinen Texten und Ansprachen zu finden; einen lyrisch-eleganten, der besonders diese Johannespassion aufweist, die im Gegensatz zu Ostermusiken seines bekannten Kollegen Brockes weniger hochdramatisch-schaudrig, jedoch nicht minder bewegend und theatralisch sind.

Diese Mixtur äußerte sich bereits im Eingangschoral des Gerhardt-Liedes „Ein Lämmlein geht und trägt die Schuld“, den Les Muffatti und der aus acht Solisten bestehende Chor federnd leicht, aber mit textlich betonender Tiefe artikulierten. Ihm wohnte zudem der grundlegende Optimismus inne, den William Berger als Jesus – mit vibratoweicher und doch kerniger Stimme – in seinem standhaft ertragenden und von Erlösungszuversicht getragenen Leid verkörperte. Diese für alle Menschen aufgenommene und erwünschte Größe übertrug er ausdrucksstark, mit warm-gewichtigen Wallungen zu Beginn, ohne die Kontenance zu verlieren im Pilatus-Prozess, vielmehr schon erhoben und erhaben in hochbaritonaler, starr annehmender Stärke im letzten Atemzug, der mit diesen einfach anderen, zurückhaltenden, geschickten Mitteln ergreifend gesetzt wurde.

Instrumental baute Telemann – wie man es eben von ihm kennt – auf naturalistische Effekte und das Verpacken der Geschichte in zu Text und Anschauung passenden, hier Sopran und Alt vorbehaltenen Concerto-Arien voller Melodieschönheit, Rhythmik, Lieblichkeit, Geborgenheit und tröstender Aufhellung, die Les Muffatti hervorragend präsentierten. Stets machten sie raffiniert aufmerksam auf die von den Streichern eingezogenen „rauschenden Fluten“, schwungvollen „Meere“ und „Donner“, die in die herrliche Umkleidung kurz einfallenden schrillen Störakzente beim „herben Kelch“, erwärmende Tiefe der „Erde“, Strahlkraft in der „Höhe“ und energische, betonte, knackige Spritzigkeit mit dem Continuo in den italienischen, verspielten Kraftspende-Bravurien in lebendiger Dynamik. Sie überdeckte zwar manchmal die zierliche Sopranstimme Siri Karoline Thornhills, vor allem im schwächeren tieferen Register oder ihrem auf kleinerer Flamme lodernden Feuer der Raserei. Dafür verfing ihre Expression in der Leichtigkeit und Ausgewogenheit ihrer klaren Höhen, dem Kontrast des „Langmutes“ sowie der tröstenden Aufgehung im Kreuztod, reichlich verziert und von Streichermelodie und Naessens' nachperlendem Cembalo besonders galant nachempfunden.

Fast verwundert-ulkig waren ihre gesteigerten, ungläubigen Einwürfe „Kann dieser Anblick dich nicht rühren, du wahre Brut von Tigertieren, was rührt dich dann?“ in dichterisch typisch eindrücklich telemannischem Theatralik-Ernst des Alt-Arioso-Rezitativs zur Kreuzigung, die Mezzo Markéta Cukrová sanft klagend bebilderte. Countertenor Clint van der Linde antwortete darauf in verlässlicher Humanität und expressiver, bewandter, betonter Klarheit des Mitfühlens. Immer thronte in seinem tragenden, lagengeschmeidigen, dynamisch eingebrachten Alt eine Zuversicht und wie in seinen übrigen wunderbaren Einsätzen in der Siciliano-Arie oder dem getupften „Stirb dann ohne dein Verschulden“ eine beschwichtigende, übertragende Stärke. Mit Cukrová, die in ihre gefälligen, zugleich schmissigeren Arien mit Phrasierung sukzessive besser hineinfand und am Ende in versöhnlicher, optimistischer Federung den Bogen eben dieser Grundstimmung spannte, überzeugte er die Gemeinschaft von der rettenden Erlösung, die der Chor triumphierend und flügelhaft beschwingt mit dem glänzenden Einsatz der über eineinhalb Stunden ausharrenden Solotrompete feierte.

Nicht (so lange) warten musste der Zuhörer auf die leidwärmende Altblockflöte, erst recht nicht auf die umschmeichelnde obligate Oboe und Oboe d'amore sowie die graziösen Traversflöten des Ensembles, die das Gehörte ansprechend mit Affekt bereicherten. Ummantelt und gestützt wurde die Passion natürlich vom Evangelistenbericht, der durch die lyrische Wortwahl mit anderen Betonungen aufwartete, flüssig und – bei damals vorausgesetzter Kenntnis – die Geschichte knapper und verdaulicher erzählte. Tenor Eric Stokloßa überzeugte darin mit klarer, prägnanter Sprache, die im Verlauf, spürbar selbstverständlich zur Verurteilung und dem literarischen Austausch mit der Menge der Jüden, immer würziger und versierter wurde. Deren Turbae, sehr kurz, mal schneidig, flockig, lapidar, süffisant oder bockig, blieben ebenfalls – wie auch die fluss- und wortbetonten Choräle – einprägsam. Eine selten(e) gelungene Aufführung.

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