„Weicht, ihr Geister aus jener Zeit!“ Ein Seufzer, der nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs vielen, die an der Deportation jüdischer sowie anderer ungeliebter Mitbürger aus dem Deutschen Reich in Konzentrationslager beteiligt waren, über die Lippen kam. Noch im Frankfurter Auschwitz-Prozess, der 1965 für Ausführende der NS teils nur geringe Haftstrafen einbrachte, wurden die betroffenen Opfer im Zeugenstand oft als unglaubwürdig verhöhnt. Die polnische Autorin Zofia Posmysz fand erst 1962 die Kraft, in der Erzählung Die Passagierin ihre ganz persönlichen Erinnerungen an ihre Internierungszeit in Auschwitz zu berichten: „In der ‘Passagierin’ gibt es die Personen, die mir im Lager am nächsten standen. Mit Marta und Tadeusz war ich sehr eng verbunden. ... Unter den Aufseherinnen war eine, die ich noch Jahre später vor Augen hatte, Anna-Lisa Franz. … Ich stelle nicht in Abrede, dass die Juden am stärksten betroffen waren. Aber auch Angehörige anderer Völker wurden ins Gas geschickt.“
Der russische Librettist Alexander Medwedew machte Dmitri Schostakowitsch auf den Stoff aufmerksam. Der wiederum legte ihn dem befreundeten Komponisten Mieczysław Weinberg vor, da dieser als gebürtiger Pole die beschriebene Kultur am besten nachvollziehen könne. 1919 geboren, war Weinberg aus Warschau vor Verfolgung geflohen und schließlich in Moskau gelandet, wo er von Schostakowitsch zwar gefördert wurde, aber weitgehend unentdeckt blieb. Seine Auschwitz-Oper Die Passagierin konnte er nie auf der Bühne sehen. Ihre szenische Uraufführung erlebte sie 2010 bei den Bregenzer Festspielen in einer Inszenierung von David Pountney und unter dem Dirigat des damals noch wenig bekannten Teodor Currentzis. Sie stieß eine internationale Wiederentdeckung des Komponisten an. Die Passagierin wurde inzwischen ein gutes dutzend Mal auf die Bühne gebracht, zuletzt an der Münchner Staatsoper.
Zofia Posmysz, die erst 2022 verstarb und damit Weinbergs beginnende Wertschätzung erleben konnte, hat den Komponisten noch kennengelernt; sie beschreibt ihn in einem Interview als „höflich und sehr zurückhaltend“. Seine Musik ist immer wieder überraschend, klagt an ohne plumpe Vergeltungsfantasie. Geradezu diskret geht sie auf die Charaktere im Stück ein, strotzt nur so vor Stilen zwischen sakralem Ton, Beethoven-Zitat oder melancholischem Schlaflied. Mal ahmt das Schlagzeug Schüsse nach, mal strahlen die Streicher im schnulzigen Lieblingswalzer des Kommandanten.
Die Handlung entwickelt sich aus einer vertrackten Situation: Anna-Lisa und ihr Mann Walter reisen auf einem Ozeanschiff nach Brasilien, wo er als Diplomat arbeiten soll. Dass sie zwei Jahrzehnte zuvor Aufseherin der SS im KZ Auschwitz gewesen war, hatte sie ihm verschwiegen. Nun aber meint sie auf dem Schiff die polnische Strafgefangene Marta wiederzuerkennen, die ihr die Vergangenheit dicht vor die Augen holt. Zwei Ebenen vermischen sich in der Oper auf einzigartige Weise: wenn Anna-Lisa ihrem Mann die Geschehnisse aus ihrer Tätersicht darstellt und wenn Marta, ihr Verlobter Tadeusz und die Lagerinsassen die Erinnerung als Betroffene personifizieren. Die Lippenbekenntnisse der Täterin werden von szenischen Rückblenden entlarvt. Ob die Doppelgängerin eines Opfers, teils stumm und pantomimisch agierend, die fragliche Marta ist, bleibt letztlich offen; jedoch gibt sie mit ihrer ruhigen Selbstbehauptung der Opferebene überzeugendes Gewicht.
Am Deutschen Nationaltheater Weimar (DNT) kam nun eine fesselnde Neuinszenierung auf die Bühne, in der Jossi Wieler und Sergio Morabito die Ebenen überzeugend und ohne einschlägige Nazi-Symbole auf der Bühne herausarbeiteten. Kulisse und Kostüme stammen von Anna Viebrock: einziger Spielraum ist ein holzgetäfelter Gerichtssaal, dem Gallus-Haus nachempfunden, wo die Frankfurter Prozesse stattfanden: schwarz übermalte untere Hälfte, die abwaschbare Wände der Gaskammern symbolisieren soll; ein Geländer oben wie die Reling eines Schiffs. Dazu kontrastieren Szenen mit KZ-Insassen in zuvor gut bürgerlicher Kleidung gegenüber SS-Leuten in Anzügen der Nachkriegszeit, die Fragen nach dem Fortbestand solcher Kreise nahelegen.
Eine neue vollständig deutsche Übersetzung von Susanne Felicitas Wolf öffnet das Libretto für heute pointierte Aussagen, scharfen Sarkasmus und trockenen Humor. Verloren gehen dabei leider Abschnitte in Sprachen anderer Lager-Insassen, wie das original russische Volkslied der Katja aus dem Mädchen-Sextett von Martas Leidensschwestern.
Opfer neben Täterin: noch eine weitere Nervenbahn öffnet sich, wenn Wieler und Morabito die Andeutung eines lesbischen Liebeswunschs von Lisa zu Marta herauskristallisieren. Emma Moore als Marta und Sarah Mehnert als Anna-Lisa waren ebenbürtig in der Intensität ihres dramatischen Spiels ebenso wie bei der Brillanz ihres stimmlichen Ausdrucks. Auch Taejun Sun als Walter und Ilya Silchuk als Tadeusz brachten sich als starke Eckpunkte dieses Quartetts ein. Und Gänsehautmomente, wenn statt des Kommandanten Lieblingswalzers gegen den Befehl Tadeusz Bachs Chaconne spielt. Im Wechsel von Schmerz und Schmunzeln, zwischen Französischlektionen und hoffnungsvollen Plänen beeindruckten Martas sechs optimistische junge Freundinnen.

Einwürfe des stimmstarken Opernchores kommentierten im Sinne eines Choros griechischer Tragödien. Roland Kluttig, willkommener Gast am Pult des DNT, der nach Graz nun eine zweite Produktion der Passagierin musikalisch leitet, war die in die Tiefe gehende Detailkenntnis der Partitur anzumerken. In einer exzellenten musikalischen Umsetzung durch die Staatskapelle Weimar betonte er insbesondere die expressive Seite von Weinbergs Musik, berührendes Reflektieren fernab jeglichen hitzigen klanglichen Überdrucks.
Am Ende wendet sich Marta zum Publikum, im Lichtspot zwischen vielen gebeugten Rücken, hinterlässt die Hörer nachdenklich mit der Botschaft: „Sollten unsere Rufe verhallen, dann dürft ihr ihnen nie verzeihen.“