Im Augenblick haben egomanische Herrscher ja Konjunktur. Vollmundig behaupten sie, jede Frau zu kriegen, nur, weil sie prominent sind und Macht haben. Auch Übergriffe gelten da scheinbar als erlaubt. Von solchem Schlage ist auch Händels Opernheld Xerxes, der freilich wenig mit dem antiken Perserkönig zu tun hat, sondern eher den zeitgenössischen Herrschern der Händelzeit einen Spiegel vorhält.
In der Frankfurter Inszenierung aber wird die Handlung weder historisiert noch plakativ aktualisiert; das Regieteam durchleuchtet stattdessen die Oper konsequent psychologisch, stellt sie mitten in die Gegenwart in eine Gruppe junger Leute, die von genug Luxus gesättigt sind, aber ausgehungert an der Seele. Gezeigt werden gleichsam in einer Versuchsanordnung ganz private Verhaltensmodelle von Menschen auf dem steinigen Weg ihrer Suche nach Bindung, Zuneigung und Liebe. Das alles an einer opulent gedeckten Tafel, in eleganter Gesellschaftskleidung, aber bei zunehmendem Verlust ihrer Fassung.
Alles über Xerxes sagt bereits sein erster Auftritt, mit dem die verwickelte Handlung beginnt. An dieser Stelle steht das berühmte „Ombra mai fù“, in dem Xerxes verzückt eine Platane ansingt. In Frankfurt wird das Blätterwerk auf einen Vorhang projiziert und während Gaëlle Arquez als Xerxes dieses Larghetto-Arioso berückend schön singt, hüllt sie sich langsam ganz in diesen Vorhang ein. Ein sinnfälliges Symbol für Xerxes' Begriff von Liebe: besitzergreifend, selbstbezogen, aber auch bedürftig nach Geborgenheit. Um zum Ziel zu kommen, nutzt er alle Mittel, subtile wie brutale. Wo Schmeichelei nichts erreicht, arbeitet er mit Druck. Sein einziges Ziel ist es, Romilda zu gewinnen, die aber mit seinem Bruder Arsamene verbunden ist. Diesen wiederum liebt Atalanta, Romildas Schwester. Zwei Brüder also begehren dieselbe Frau (Romilda) und zwei Schwestern denselben Mann (Arsamene); beiseite steht die von Xerxes verlassene Amastre, die ihrer verlorenen Liebe hinterherhetzt.
Diese Personen- und Konfliktkonstellation wird nun von Tilmann Köhler aufs Genaueste ausgestellt. Intensiv muss er mit den einzelnen Sängerdarstellern die Charaktere entwickelt haben, denn sie stellen ihre Rollen beeindruckend präsent dar. Bemerkenswert ist vor allem, wie genau die Regie die Körpersprache aus der Musik entwickelt. Da unterstreicht Louise Alder als Atalanta in einer Arie („Un cenno leggiardretto“) ihre Strategie im Liebeswerben nicht allein mit verschmitztem, kokettem und angriffslustigem Spiel, sondern legt stimmlich dazu sozusagen auch die in den Noten versteckten Samtpfoten wie auch die Krallen frei. Ironisch kommentiert die Solovioline diesen Überschwang an Temperament - in der überbordenden Spielfreude der Sängerin und deren herzerfrischenden Komik ein Höhepunkt des Abends.
Als Grundstimmung liegt über der Inszenierung aber eher Melancholie. Xerxes' Manipulationen der Menschen können auch niemanden erheitern; sein rücksichtsloser Narzissmus stiftet bei allen Beteiligten nur heillose Verwirrung bis hin zur Bestürzung. Besonders leidet sein Bruder Arsamene, vom Countertenor Lawrence Zazzo anrührend gesungen, der die musikalisch auch eher resignativ gezeichnete Rolle mit der lyrischen Melancholie ihrer Arien eindrucksvoll ausfüllt. Doch diese Figur hat auch eine andere Seite: einmal versucht Arsamene, Xerxes die Stirn zu bieten. So zeigt die Regie keine der Figuren eindimensional und entspricht in der Charakterzeichnung genau deren musikalisch vielfältigen Facetten.
Dies gilt auch für Romilda, die Elizabeth Sutphen überzeugend als Fels der Treue in der Brandung all der Gefühlsverwirrungen in dieser Oper zeigt. Doch auch diese Figur kann sich der Zudringlichkeiten Xerxes' nicht gänzlich erwehren. So reicht bei Elizabeth Sutphen die vokale Ausdruckspalette von unschuldig zarter Reinheit der Auftrittsarie bis zu scharfer Attacke, wenn es darum geht, die nebenbuhlerische Schwester aus dem Feld zu schlagen.
Insgesamt also ein großartiges Sängerensemble – einschließlich Brandon Cedel als Feldherr Ariodate und Thomas Faulkner als komischer Diener Elviro – macht diese Produktion zu einem weiteren Glanzpunkt im Frankfurter Spielplan. Dazu gehört auch Tanja Ariane Baumgartner, die als herumirrende Amastre wie atemlos deren verzweifelte Arien singt. Für das Regieteam ist es nach Teseo und Radamisto bereits die dritte Arbeit mit einer Händeloper in Frankfurt, und auch das Orchester erweist sich als ungemein versiert in der Spielweise dieser Musik. Der Klang ist geschmeidig und Constantinos Carydis dirigiert ungemein subtil mit fein dosierter Dynamik. Wunderschön kommen die vielfältig eingesetzten Solinstrumente zur Geltung, die der Musik eine schillernde Farbigkeit geben.
Zurück zum Titelhelden, den die international gefragte Mezzosopranistin Gaëlle Arquez einfach hinreißend verkörpert. Für die ungemein unsympathische Opernfigur Xerxes bietet sie große darstellerische Empathie auf und ihre abgerundete, warme, balsamische und farbenreiche Stimme ist für diese Rollenauffassung perfekt. Sie zeigt an Xerxes dessen machtbewusste Kälte, aber auch seine Verletzlichkeit. Berührend singt sie dessen Arie „Il core spera e teme“, in der dieser nach außen so stark erscheinende Macho in einer Art Selbstreflexion ans Publikum gerichtet seine Selbstzweifel offenbart. Doch wenn Xerxes am Schluss auch seine Maske fallen lassen muss und sich bei Amastre entschuldigt, so gibt es für ihn kein glückliches Ende. In dieser Inszenierung bleibt er allein hinter dem fallenden Vorhang, getrennt von den Übrigen, die aber auch nur sehr verhalten einem lieto fine entgegensehen.