Die Barockmusik bildet am Verbier Festival keinen Schwerpunkt. Gelegentliche Ausflüge ins barocke Repertoire bestätigen die Regel. Umso erstaunlicher, dass eines der Hauptprojekte des diesjährigen Sommers der Messe in h-Moll von Johann Sebastian Bach gewidmet war. Konnte das gutgehen? Als Spiritus Rector der Produktion wirkte der Dirigent Leonardo García-Alarcón, der zum ersten Mal in Verbier auftrat. Unterstützt wurde er von dem Chœur de chambre de Namur, einem bunten Solistenquintett und dem Verbier Festival Chamber Orchestra. Dirigent und Chor bildeten eine natürliche Einheit, steht das belgische Profiensemble doch seit 2010 unter der Leitung von García-Alarcón. Der argentinische Dirigent, Cembalist und Organist arbeitet hauptsächlich im Bereich der historischen Aufführungspraxis und ist unter anderem durch seine in Genf gegründete Cappella Mediterranea bekannt.

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Leonardo García-Alarcón
© Sofia Lambrou

Das VFCO ist das Residenzorchester des Festivals. Seine Mitglieder sind Alumni des Verbier Festival Orchestra; die meisten von ihnen bekleiden heutzutage Stellen in renommierten Orchestern. Aber das VFCO ist ein „normales” philharmonisches Orchester, kein Barockorchester. Und hier beginnt die Problematik dieser Bach-Interpretation. Der an der historischen Aufführungspraxis orientierte Ansatz des Dirigenten und der Stil des Orchesters passten nicht wirklich zusammen. Die Musiker spielten auf modernen Instrumenten, einzig die drei Trompeten, das Naturhorn und das Orgelpositiv repräsentierten zeitgenössisches Instrumentarium. Was die typisch barocke Artikulation betraf, war zwar die Probenarbeit des Dirigenten durchaus zu erahnen, aber das Resultat blieb hinter den Erwartungen zurück.

Johann Sebastian Bachs <i>Messe in h-Moll</i> &copy; Sofia Lambrou
Johann Sebastian Bachs Messe in h-Moll
© Sofia Lambrou

Der Chœur de chambre de Namur pflegt ein breites Repertoire, hat aber seinen Schwerpunkt eindeutig im Barock. Im Konzert in der Salle des Combins trat der Chor mit nur 36 Sängerinnen und Sängern auf. Experimentierfreudig zeigte sich der Dirigent in der Aufstellung: Beim ersten Kyrie und beim Dona nobis pacem standen die Choristen verteilt auf den Treppen des Publikumsraums und obendrein in gemischter Position der Stimmgruppen. Es war eine Demonstration nach dem Motto: „Hört mal, auch so bleiben wir rhythmisch immer noch zusammen.“ Der musikalische Sinn dieser Geste erschloss sich jedoch nicht, zumal der Chor für den Rest der Aufführung neben und hinter dem Orchester auf der Bühne sang. Das beeindruckende künstlerische Niveau des Ensembles zeigte sich insbesondere in den virtuosen Chornummern der Messe, sensationell etwa im 8-stimmigen, doppelchörigen Hosanna.

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Leonardo García-Alarcón und Mariana Flores
© Sofia Lambrou

Der Weder-noch-Charakter der Interpretation offenbarte sich auch in der Wahl der Vokalsolisten. Die chinesische Sopranistin Ying Fang, ein gerne gesehener Gast in Verbier, passt mit ihrer hellen Mozart-Stimme gut zu Bach. Eine ausgesprochene Barockspezialistin ist die Argentinierin Mariana Flores, notabene die Ehefrau von García-Alarcón. Einen Glanzpunkt bot das Duett Christe eleison, wo die beiden Sopranistinnen interpretatorisch an der gleichen Strippe zogen, von ihrem Timbre her jedoch deutlich unterscheidbar waren. Die Mezzosopranistin Alice Coote, eine Opernsängerin mit großer Stimme und vibratoreicher Tongebung, passte, wie im Agnus Dei zu hören, schlecht in diesen Cast; zudem lieferte sie sich hier einen ständigen Kampf mit dem Dirigenten um das angemessene Tempo.

Die Stunde des Schweizer Tenors Bernhard Richter schlug im Benedictus, dem er durch schlichte und gleichzeitig beredte Gestaltung einen fast überirdischen Charakter verlieh. Etwas brav nahm sich dagegen die Begleitung der ersten Flötistin des Orchesters aus. Der Fünfte im Bunde, der deutsche Bariton Benjamin Appl, ein bekennender Liedsänger, nahm dem Satz Quoniam tu solus sanctus alle Erdenschwere, wohingegen der Hornist und die beiden Fagottisten in ihrer demonstrativen Spielfreude etwas über das Ziel hinausschossen.

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Ying Fang, Leonardo García-Alarcón und Bernard Richter
© Sofia Lambrou

Eine gelungene optische Bereicherung fand die Wiedergabe durch die Videoprojektionen von Laurent Cools. Sie wirkten so, als würde man mit einem Raumschiff durch das Weltall rasen, wo einem die Sonnen und die Milchstraßen in abenteuerlichem Tempo vor den Augen vorbeifliegen. Bilder der Unendlichkeit, die Bach in seiner h-Moll-Messe mit dem Medium der Musik vermittelt.


Ein Teil der Hotel- und Reisekosten von Thomas Schacher wurden vom Verbier Festival übernommen.

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