Es ist bereits die siebte „quartettissimo!“-Saison im Kurhaus Bad Tölz, in der international renommierte Streichquartette im bestens gefüllten Kursaal im bayerischen Oberland zu bewundern sind. An diesem Abend steht das Amaryllis Quartett aus Köln im Mittelpunkt mit einer delikaten Programmfolge zwischen Klassik und Moderne. Gustav Frielinghaus und Lena Sandoz (Violinen), Mareike Hefti (Viola) und Yves Sandoz (Violoncello) haben das Quartett im Jahr 2000 gegründet, studierten bei Walter Levin in Basel, später beim Alban Berg Quartett in Köln. Mit einem der beliebtesten Streichquartette von Ludwig van Beethoven eröffneten sie einen anregenden Abend.

Lise de la Salle © Stéphane Gallois
Lise de la Salle
© Stéphane Gallois

Nach den drei Quartetten Op.59, die wegen ihres hohen Anspruchs an die Technik der Ausführenden zunächst nicht sehr erfolgreich waren, plante Beethoven ein eher heiteres Werk. Sein Es-Dur-Quartett Op.74, in derselben Tonart wie das benachbarte Klavierkonzert, wurde auch sofort als „unbeschwerter“, „gelöster“ gewürdigt. Aufhorchen ließ das Amaryllis Quartett gleich mit dem Poco Adagio zu Beginn: 24 geheimnisvolle Takte lang näherten die Streicher sich auf kontrapunktischen Umwegen der Einführung des Es-Dur-Hauptthemas, trieben danach das Wechselspiel von Haupt- und Seitenthema im Dissonanzen-Dschungel am Ende des Allegro auf die Spitze. Pizzicati und Dreiklangsbrechungen ließen einen Harfen-Effekt aufklingen, der dem Stück seinen geläufigen Beinamen gegeben hat.

Wunderbar meditativ und kantabel das Adagio danach, virtuos flink in Oktavsprüngen und Tonkaskaden das Presto. Der volksliedhafte Variationensatz am Ende wurde wieder zum Experimentierfeld in Klangfarben. Maximale Symbiose des Ensembles bei ebenso gleichzeitiger maximaler Individualisierung der Stimmen war da zu bewundern: ein echtes Kunststück, das vor allem der Primarius mit weit gespannter Ausdruckspalette markant heraushob.

Ein wenig anders ist die gewohnte Optik auf dem Podium an diesem Abend: hinter dem Halbkreis der Streicher prangt ein großer Steinway-D-Flügel, eine Legende in den Konzerthäusern der Welt. Zum Quartett kommt Lise de la Salle aus Paris hinzu, eine der international zurzeit gefragtesten jungen Konzertpianistinnen. Und mit Bravour machten sie die Hörer mit einem wenig bekannten Jugendwerk von Gustav Mahler bekannt, dessen Symphonien derzeit zu den meistgespielten in den Orchesterkonzerten gehören. Den Klavierquartettsatz a-Moll des Sechzehnjährigen, Kopfsatz eines kompletten Quartetts, das in Teilen auf dem Weg zu einem Wettbewerb in St. Petersburg verloren ging, ließ in seinem Klangrausch an Mahlers Lehrer Brahms denken. Sanft spannten Pianistin und Cellist das elegische Hauptthema auf, leise nahmen die anderen die Melodie auf. Durchführung und Verdichtung mündeten in erregten chromatischen Läufen bis in einen wieder pianissimo ausklingenden Schluss.

Ein später entdecktes, 17-taktiges Fragment dieses Werks nahm Alfred Schnittke, ein großer Bewunderer Mahlers, um 1975 zum Kristallisationskeim seines Klavierquartetts. An Stelle einer Vollendung des Satzes fand Schnittke einen anderen Weg: im „Bemühen, sich an etwas zu erinnern, das nie zustande kam“. Lyrisch spätromantische Passagen wechseln mit dissonant dynamischen Höhepunkten; mitreißend durcheilten de la Salle und die Quartettsoli wild hämmernde Klavierpassagen und geläutert melodiöse Motiv-Erinnerungen an Mahler.

Es gibt Melodien, die so eingängig sind, dass sie zum sofortigen Mitsummen animieren. Der Anfang von Antonín Dvořáks Klavierquintett Nr. 2 A-Dur, Op.81, von Cello und Klavier vorgetragen, ist so eine altbekannte Weise. Aber der Komponist bleibt nicht bei diesem Einfall. Ihm gelang das Kunststück, ein gut viertelstündiges Allegro daraus zu entwickeln, in dessen Verlauf man immer wieder überrascht einer neuen Facette dieses Eingangsgesangs begegnet, als wollte der Komponist eine Geschichte erzählen, eine Art „Held” porträtieren.

Ebenso erlebte man das Andante con moto als eine seiner schönsten Melodieschöpfungen überhaupt, heiter ohne Vordergründigkeit, perfekt durchgeformt, mal tänzerisch oder nachdenklich-melancholisch, wie es der Satzcharakter einer Dumka (oder einem auftrumpfenden böhmischen Furiant dann im Scherzo) verlangt. Die ursprünglich ukrainische Dumka verbindet dabei langsam-schwermütige mit raschen, ausgelassenen Teilen. Raffinierte Stimmungswechsel, jede Imitation innerhalb der Stimmen brachten die Musiker in eifrigem homogenem Dialog, die Sätze insgesamt zu leuchtenden Bilderbögen von fast orchestraler Pracht, bis zu feurig rasanter Schlusssteigerung im finalen Allegro.

Lise de la Salle und das Amaryllis Quartett wussten neben der angeblich so leichten, musikantisch-naiven Seite Dvořáks enorm viel Tiefgang aufzuspüren. Mit dem silberhell volltönigen Steinway deckte sie die Streicher nur selten zu; sympathisch ließen sie sich zu einem Dialog auf Ohrenhöhe ein, dessen Spannung in keinem Augenblick nachließ: langer jubelnder, herzlicher Beifall!

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