Die erschütternden Schicksale zweier Frauen, beide überliefert aus mythischer Zeit und im Laufe der Geschichte in Musik immer wieder neu und bewegend erzählt. Unschuldig beide aus fatalem Irrtum: die (namenlose) Tochter Jephtes, des Heerführers der Israeliten, der um den Sieg zu erringen, seinem Gott gelobt, zum Dank das erste Wesen zu opfern, das ihm nach der Heimkehr begegnet – schrecklicherweise seine eigene Tochter. Und Dido, die Königin Karthagos, die sich eigentlich gegen ihren Willen auf eine Verbindung mit dem trojanischen Helden Aeneas einlässt, weil sie seinem Liebesschwur vertraut, der sie aber auf den vermeintlichen Befehl seiner Götter um einer höheren Mission willen verlässt.

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Maxim Emelyanychev dirigiert Il Pomo d'Oro
© Sebastian Madej

Nur rund 40 Jahre trennen die Entstehung beider Werke: Giacomo Carissimis Historia di Jephte, eines der ersten Oratorien, bestimmt für die religiöse Andacht im kirchlichen Raum und Henry Purcells Dido and Aeneas, eine der frühesten Opern der Musikgeschichte, genuin für die Bühne geschrieben. Die Aufführung durch das Originalklang-Ensemble Il Pomo d'Oro und den Il Pomo d'Oro Choir unter der Leitung von Maxim Emelyanychev in der Elbphilharmonie machte sowohl die Verwandtschaft beider Werke wie auch deren Unterschiede wunderbar deutlich.

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Andrew Staples
© Sebastian Madej

Emelyanychev dirigierte ungemein engagiert, modellierte die Klänge mit starker Gestik aus. Klangliche Schönheit, rhythmische Vitalität und höchst subtile Artikulation prägten durchweg die Musik. Lebendige Klangrede wurde in Chor und Orchester durchgängig zum Prinzip des Musizierens. Unterschiedlich war nur der Grad der Intensität der heraus gespielten Affekte. In Carissimis Oratorium herrschte bei aller musikalischen Rhetorik die gemessene Stimmung ernster Kontemplation vor. In Purcells Oper ließen sich die Musikerinnen und Musiker vom theatralen Impetus mitreißen. So wurden beide Interpretationen auf ihre Weise den jeweiligen Werken wunderbar gerecht.

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Anna Piroli, Beth Taylor und Alena Dantcheva
© Sebastian Madej

Das Oratorium von Carissimi ist weitgehend chorisch besetzt, wobei Chorsolisten auch einzelne kurze Sequenzen übernehmen. Die Handlung wird in knapp 30 Minuten konzentriert erzählt. Neutraler Erzählbericht des sog. Historicus wechselt mit eher affektbetonten Solostellen von Jephte und seiner Tochter und wird ergänzt von kommentierenden Chorsätzen. In feiner Abstimmung gestalteten Chor, Orchester und die beiden Solisten Andrew Staples (Jephte) und Carlotta Colombo (Filia) die jeweiligen musikalischen Situationen, die Carissimi musikalisch bildhaft und tonmalerisch reich komponiert hat. Da gibt es im Chor ein Fugato aus schnellen Sechszehnteln auf das Wort „fugite”, das Klagen („plorate”) oder Weinen („lacrimate”) kam ebenso klangplastisch heraus wie das Jauchzen der Tochter, als sie in tanzendem Rhythmus ihrem siegreich heimkehrenden Vater entgegen eilt. Carlotta Colombos jugendlich klare Stimme war berührend in dieser Situation. Dagegen die Verzweiflung Jephtes beim Anblick der fröhlichen Tochter: Andrew Staples gestaltete hier den plötzlichen Umschwung nach Moll mit feinem Gefühl. Die in der Musik vermittelten Emotionen in Klang und Farbe waren sinnlich zu spüren. Der ergreifende Abschiedsgesang der Tochter und der abschließende Trauerchor, den Händel im Samson zitiert, ließ das Publikum nach dem Verklingen für einen kurzen Augenblick empathisch bewegt zurück.

Fatma Said und Joyce DiDonato © Sebastian Madej
Fatma Said und Joyce DiDonato
© Sebastian Madej

Ähnlich schließt Purcells Oper mit dem berühmten „Remeber me, but ah! Forget my fate”. Hier geht allerdings eine dramatische Handlung voraus, welche die Emotionen der Figuren heftig in Bewegung bringt. In den äußerst knapp gehaltenen drei Akten von weniger als einer Stunde wechseln die Affekte schlagartig. Zwischen ausgelassener Fröhlichkeit der Matrosen, der bleiernen Schwermut Didos und der hämischen Schadenfreude der Zauberin mit den Hexen durchläuft die Oper eine große Bandbreite an Emotionen. Das wurde auch von den Sängerinnen und Sängern eindrucksvoll realisiert. Als Didos Schwester Belinda versprühte Fatma Said pure Fröhlichkeit. Der Chor ließ es im Fall der beschwipsten Matrosen vor der Abreise aus Karthago nicht an Ausgelassenheit fehlen. Die Szene der Zauberin wurde zu einem Glanzstück musikalischer Boshaftigkeit und Schadenfreude. Vokal versprühte Beth Taylor hier Gift und Galle. Schrill feixten dazu die Hexen (Alena Dantcheva und Anna Piroli), vom Chor mit hämischem Lachen unterstützt. Weil ihm auch die Komposition nicht viel Raum zur Entfaltung bietet, blieb Andrew Staples als Aeneas wenig profiliert und hatte dem eindringlichen Befehl des Geistes (als vermeintlichem Gott Merkur) in Gestalt des Counters Hugh Cutting nicht viel entgegenzusetzen. Mit einem absoluten Opernstar wollte die Produktion offenbar besonders punkten. Joyce DiDonato, eine fantastische Dido in Berlioz' Grand opéra, schien hier aber etwas überbesetzt. Sie war eine außerordentlich subtile Gestalterin, vermochte makellos und mezza voce die Seelennot der Figur ergreifend auszudrücken, für die emotionalen Ausbrüche allerdings war ihre Stimme aber einfach zu groß, so dass sie das ansonsten sehr homogene Ensemble in einer Weise überstrahlte, die hier wenig angemessen erschien.

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