„Sich zu verirren ist auch eine Richtung“, sagt der spanische Choreograph Marcos Morau, den die Journalisten des Magazins tanz in ihrem Jahrbuch der Saison 22/23, zum Choreographen des Jahres kürten. Ohne selbst Tänzer gewesen zu sein, gründete Morau 2005 in Barcelona seine Compagnie La Veronal, in der Tanz, Bühne, Kostüm und Licht gleichberechtigte Partner sind. Einflüsse von Film, Fotographie und Literatur machen Moraus Choreographien zu unvergesslichen bildgewaltigen Erlebnissen. In der gestrigen Premiere seiner aktuellen Kreation Horses gelang ihm mit den Tänzern des Niederländischen Tanztheaters aufs Neue eine intime, rätselhafte und sehr eindringliche Tanztheatervorstellung.

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Horses: Matthew Foley
© Rahi Rezvani

Noch während das Publikum nach der zweiten Pause zurück in den Saal strömte, betrat NDT-Tänzer Matthew Foley mit roter Perücke und Clownskostüm (Kostüme: Silvia Delagneau) die noch kaum beleuchtete Bühne. In einem nicht enden wollenden Strom von Slapstickbewegungen lief Foley ungelenk in viel zu großen ausgelatschten Schuhen, fiel unelegant über seine Füße und rollte kopfüber über die Bühne. Virtuos ver- und entknotete er dabei seine Gliedmaßen zu immer neuen atemberaubenden Körperskulpturen. Währenddessen stimmten die Musiker des Ballettorchesters im Graben unbeeindruckt ihre Instrumente. Ein Teil der aufmerksam gewordenen Zuschauer begann verlegen zu lachen, der größere Teil blieb jedoch bis das Licht im Saal endlich gelöscht im Modus des pausenüblichen Smalltalk und dadurch von Foleys Akrobatik seltsam unberührt.

<i>Horses</i>: Pamela Campos &copy; Rahi Rezvani
Horses: Pamela Campos
© Rahi Rezvani

Max Glaenzels Bühne ist nach hinten hin offen und gab den Blick frei auf eine weiße Betonwand vor der Requisiten, Bühnenteile und Dekorationsmaterial unübersichtlich durcheinander gestapelt sind. Ein elektrischer Gabelstapler macht dort seine Runden und ab und zu blitzt eine Taschenlampe auf. Was sich aus dieser Ausgangssituation heraus entfaltet, ist ein unerklärlich spannungsgeladenes und aussagekräftiges Theaterstück. Als dominierende Dekorstücke fungieren altmodische Straßenlaternen, die von den elf TänzerInnen mit der Lampe am Boden über die Bühne gezogen werden. Deren grelles Licht zog einzelne Tänzer immer wieder magisch wie Motten an und erinnerte gleichzeitig an das metaphorische Im-Rampenlicht-Stehen.

Verwirrend war der ständige Wechsel von Erlöschen und Erstrahlen, den die Tänzer mit unnachahmlichen Mienen- und Körperspiel kommentierten als würde man ihnen ihre Handys wegnehmen. Die Laternenpfähle dienten daneben auch regelmäßig als bewegendes Klettergerüst. Den absoluten Höhepunkt leitete wiederum Foley ein, der bärenstark zwei an der Basis aneinandergeschweißte Laternen an ausgestreckten Armen über seinem Kopf im Kreise drehen ließ. Unter dem so entstandenen Karussell tanzte das Ensemble bravourös wagemutige Figuren von einander Verlieren und Wiederfinden. Moraus Choreographien, die – wie er selbst sagt – stets Monstrosität und Schönheit vereinen, lösten auch gestern in Den Haag beim Publikum Begeisterungsstürme aus.

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Without Walls: Charlie Skuy
© Rahi Rezvani

Seinen Titel Do not run Fly verdankte der gestrige Abend wohl der Premiere im ersten Teil. In Without walls von Yohann & Marie Bourgeois stellen die Choreographen eine Drehscheibe auf, auf der die Ensemblemitglieder in wilder Fahrt im Kreise gedreht werden. Gesichert durch ein Stahlseil vom Bühnenhimmel aus, fliegen einige Tänzer auch fotogen durch die Luft. Philip Glass’ Suite zum Film The Hours wurde vom Ballettorchester und seinen Solisten solide musiziert, musste aber aus akustischen Gründen leicht elektronisch verstärkt werden, was dem Klang leider nicht zugutekam.

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Solo Echo
© Rahi Rezvani

Ähnlich enttäuschend war die Tatsache, dass Johannes Brahms’ Cellosonaten zu Crystal Pites Solo Echo nicht live musiziert wurden. Das vor zwölf Jahren in Den Haag uraufgeführte Paradestück wurde dennoch von Jon Bond, Scott Fowler, Aram Hasler, Paxton Ricketts, Nicole Ward, Yukino Takaura und Luca Tessarini in seiner Melancholie so kraftvoll und energiegeladen getanzt, dass man die Zeit vergaß und sich am Ende fragte, ob man selbst der einsam zurückgebliebene Tänzer sei, der da im Schnee liegengeblieben war.

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