Dass sich der belgische Dirigent Philippe Herreweghe als Leiter des Orchestre des Champs-Élysées und des Collegium Vocale Gent nicht allein auf die Alte Musik spezialisiert hat, wurde bei seinem Programm des Musikfests Berlin deutlich, das sich drei Werken geistlicher Musik aus späteren Epochen zuwandte.
Faurés Requiem kam in der vor einigen Jahren rekonstruierten Kammerorchester-Fassung von 1893 zu Gehör. Fauré verzichtet dabei auf alle spektakulär-erschütternden Töne, die ihn am Berlioz-Requiem so abstoßend erschienen. In feierlich-erhabenen Klängen setzte der Beginn des Introït et Kyrie ein, in dem sich die Einzelstimmen zu schönster Euphonie im Gesamtklang mischten. Im Offertoire ließ Herreweghe die Chorstimmen schweben; das Orchester klang dazu, trotz der abgedunkelten Instrumentierung, nie matt. Im Sanctus blühte die bis hierhin ausgesparte Violine, im Solo, wie von himmlischer Freude inspiriert, auf. Aus der Sequenz des Dies irae vertonte Fauré allein die Schlusszeile mit ihrer Bitte um Ruhe und bildete daraus einen eigenen Satz, das Pie Jesu. Die Sopranistin Dorothee Mields fand idyllische Töne in ihrem Solopart bevor im Agnus Dei dann eindringlicheres Flehen zu Gehör kam, und im Libera me sich doch eine einzige Stelle, die vom Jüngsten Gericht handelt, findet. Herreweghe ließ die Klangstärke in Chor und Orchester zwar anwachsen, doch Angst und Schrecken breitete sich dabei nie aus. Im „Hostias“ sang Krešimir Stražanac sein verhaltenes Bariton-Solo nach Art eines Vorsängers – ein „wenig wie ein Kantor“, so wie es sich Fauré gewünscht hatte. Fauré beschließt sein Requiem mit dem Satz In Paradisum, einem Hymnus aus den „Exequien“ (Begräbnisfeier). Ein von Harfe und Orgel intoniertes ostinates Motiv klang beinahe nach Minimal-Music, und diente hier dazu, Engel zu begleiten, die, wie in Trance und der Zeit enthoben, die Verstorbenen in das Himmelreich geleiten.
Freunde Faurés hatten sein Requiem ein „Wiegenlied des Todes“ genannt, und als genau ein solches wurde das Stück an diesem Abend aufgeführt: als spannungslose Erwartung von Glückseligkeit. Herreweghe ließ die Tempi stets mit Maß fließen. Wenn er die Dynamik doch einmal zum Forte steigerte, dann geschah dies immer in ausgewogener Konzentration.
Den selten zu hörenden Begräbnisgesang von Johannes Brahms trug das Collegium Vocale Gent wie „am Grab gesungen“ vor. Die Aufführung schritt nicht, wie es die Tempobezeichnung vermuten lassen könnte, in der Bewegung eines Trauermarsches dahin, sondern hielt den Beginn in einem Schwebezustand – unentschieden zwischen irdischer Mühsal und christlichem Heilsversprechen. Der Wechsel von c-Moll nach C-Dur wurde auch nicht pompös als Ziel einer Entwicklung entwickelt. Wenn die letzte Strophe wieder auf den c-Moll-Anfang zurückgeht, klang hier die Musik im Ton ganz anders als zu Beginn.
Den Abschluss des Konzertes bildete Strawinskys Psalmensymphonie, die in etwa so weit von einer traditionellen Symphonie entfernt steht wie Fraurés Requiem von einer Totenmesse. Eine Verbindung hatten die beiden Stücke in einem jeweils entpersonalisierten Ton, der bei Strawinsky aber nicht sanft, sondern glasklar hervortritt. Herreweghe ließ, nach eröffnenden kurz angetupften Akkorden, die über spröden Basslinien erklangen, vom Chor das Bittgebet als litaneiartig deklamierten psalmodierenden Gesang, als einen strengen Cantus firmus vortragen. Dass es Strawinsky große Mühe bereitet hatte, die instrumentale Fuge, mit der der zweite Satz beginnt, für die Bläser in Diskantlage zu komponieren, war der sehr angestrengten Aufführung anzumerken. Herreweghe ließ in der Chorfuge der archaischen Strenge des Vulgata-Textes die Härte des Klanges korrespondieren. Ganz entrückt, unendlich zart, still und hingerissen sang der Chor das „Alleluia”, mit dem der dritte Satz eröffnet wurde. Ob der Dirigent sich in seinem Dirigat davon leiten ließ, dass Strawinsky im zentralen Allegro des letzten Satzes die deutlichen Triolen der Hörner und Klaviere als durch eine Vision von der Kutsche inspiriert komponierte, mit der der Prophet Elia in seinem feurigen Wagen gen Himmel fuhr, was nach russischem Volksglauben den Donner auslöste? Zumindest war eine Festtagsmusik zu hören, deren urwüchsige rhythmische Gewalt die Andacht durchbrach und deren scharf akzentuierte und so pointierte Rhythmen ihre Herkunft aus dem Jazz nicht verleugneten. Am Schluss, wo das Lob des Herrn „in cymbalis“ ertönen soll, wandelten sich die Chorstimmen in leise und zart hin und her pendelnde Glöckchen um. Diese Prozession in schwerelosen Schritten schlug eine Brücke zu dem letzten Satz des Fauré-Requiems.
Auf sehr unterschiedliche Weise vermieden es beide Komponisten, in ihren religiösen Werken, sentimental zu werden. Und dies kam in den distanzierten Aufführungen beider Werke an diesem Abend überzeugend zu Gehör.