Auf den ersten Blick scheint das Programm der aktuellen Konzertreise des Chicago Symphony Orchestra und seinem Music Director Emeritus auf Lebenszeit, Riccardo Muti, einen leichten Abend mit sonnig-italienischem Flair zu versprechen. Philip Glass' The Triumph of the Octagon eröffnete den Abend mit einer Hommage an das Castel del Monte, einer achteckigen Befestigungsanlage unweit des Geburtsorts des Dirigenten. Und auch Felix Mendelssohns Vierte Symphonie und Richard Strauss' selten aufgeführte Sinfonische Fantasie Aus Italien sind ganz in der Heimat Riccardo Mutis angesiedelt.

Wer jedoch bei diesem Programm in der Alten Oper in Frankfurt auf einen vergnügten, gar seichten Konzertabend schließt, hat weit gefehlt. Denn nach dem sphärisch-minimalistischen Auftakt von Glass ließ Muti einen überaus melancholischen Mendelssohn, geradezu profund, reflexiv und schwermütig gestimmt, anklingen. Mendelssohns Aussage, er hätte mit der Italienischen sein „lustigstes Stück“ komponiert, wirkte bei der dargebotenen Interpretation gänzlich inadäquat. Und doch war Mutis Dirigat überaus einnehmend, mit einer ungeahnt ausgearbeiteten Tiefe und Entschlossenheit, welcher im zweiten Satz, dem Andante con moto, ihren ergreifenden Höhepunkt fand, der die Musik ganz für sich sprechen ließ. Von den charakteristischen Moll-Passagen des Werks ausgehend, entwickelte Muti die Symphonie mit düster, sphärisch anmutenden Klangfarben. Das Chicago Symphony Orchestra demonstrierte dabei seine in der Aufführungstradition verankerte und durch musikalische Akribie des scheidenden Orchestererziehers veredelte Klangkultur. Die Dominanz der Holzbläser in Mendelssohns Italienischer machte deutlich, dass seit dem Wirken Mutis eben nicht mehr „nur“ das hochgerühmte Chicago Brass den Orchesterklang dominiert, sondern sich die Gesamt-Klangästhetik über sämtliche Orchestergruppen hinweg zu absoluter Exzellenz mit eigener tonaler Schattierung gesteigert hat.
Aus Italien, Op.16 ist ein sich auf der Schwelle zwischen klassischer Symphonie und großer Sinfonischer Dichtung einzuordnendes Frühwerk des erst 22-Jährigen, auf den Spuren Mendelssohns und Goethe wandelnden, Richard Strauss. Dieses konnte sich im Konzertsaal neben den späteren populären Tondichtungen, wie der Alpensinfonie oder seinem Zarathustra, nie etablieren. Als ausgesprochene Rarität hat es bisweilen (fast) kein Orchester auf einer Tournee angesetzt. Ein Kuriosum, dass ausgerechnet der nie sonderlich für Interpretationen der Werke Richard Strauss‘ bekannte Riccardo Muti an diesem Aus Italien einen Narren gefressen zu haben scheint: Vielleicht aus einer Heimatverbundenheit heraus hat der italienische Dirigent in seiner Karriere diese Symphonische Fantasie etwa einmal in jeder Dekade mit den Wiener oder den Berliner Philharmonikern aufgeführt.
Er programmierte Aus Italien auch schon mehrfach beim Chicago Symphony Orchestra und nahm es jetzt tatsächlich mit auf Abschiedstournee durch Europa. Muti zeigte, dass das knapp 45-minütige Frühwerk, insofern derart exzellent musiziert, doch manche musikalische Überraschung bereithält. Besonders stark gerieten ihm mit gleißend, blendenden Sextolen der Violinen bei behutsam artikulierenden Holzbläsern die sphärisch-impressionistischen Klänge der Strände von Sorrent des dritten Satzes. Erst im Abschluss des Konzertprogramms, im letzten Satz, dem Neapolitanischen Volksleben, versprühte Muti, dem zwar immer wieder autokratische Züge nachgesagt werden, der bis dahin jedoch recht unaufgeregt musizieren ließ, endlich sein italienisches Temperament. Nun kam auch das hochgerühmte und legendäre Chicagoer Blech, mit seinem markanten, dynamischen Sound zur Geltung. So überschwänglich und energiegeladen das volksliedhaft anmutende „Funiculi, funiculà“ im Finalsatz auch daherkam, ein wenig ließ Muti den Schalk im Nacken jedoch missen. Das Sarkastische und die Doppelbödigkeit eines Richard Strauss‘ blieb unter seiner musikalischen Leitung lediglich im Ungefähren. Und doch bleibt festzustellen, dass nach 13 gemeinsamen Jahren Riccardo Muti und das Chicago Symphony Orchestra nie besser geklungen haben!
Nach drei Komponisten, die sich durch Italienreisen zur Komposition ihrer Werke inspiriert gefühlt haben, ließ Muti als Zugabe noch einen echten Italiener erklingen: Giuseppe Verdis schwungvoll-intensive Sinfonia zu Giovanna d'Arco bildete den krönen Konzertabschluss.