Wenn man im Dezember das Opernhaus betritt und mindestens zwei, wenn nicht drei Generationen antrifft, deren jüngste in den entzückendsten Matrosenkleidern oder mit stylisch nachlässigen Märchenfrisuren (denn hier fehlen selbst die Teenies nicht) die Gänge belebt, dann weiß man, dass mal wieder am Hexenhaus geknuspert wird. Seit 1964 steht Engelbert Humperdincks Märchenoper Hänsel und Gretel in der Inszenierung von Steffen Tiggeler auf dem Spielplan – und jedes hannoversche Kind, das auf sich hält, muss sie einmal gesehen haben. Auch die 51. Spielzeit steht unter dem Zeichen von Traditionspflege.

Mit sehnsuchtsvollen Streichern beginnt die Ouvertüre, die unter Siegmund Weinmeisters gefühlvoller Leitung eine schöne Tiefe erreicht. Der Marsch mit einer Babyfanfare aus Trompeten und Schlaginstrumenten wechselt mit langen Legatobögen ab. Getreu dem sich an Grimms Märchen anlehnenden Libretto von Humperdincks Schwester Adelheid Wette haben sich inzwischen auch die Hauptpersonen auf der Bühne eingefunden. In einer ärmlichen Stube der „Es-war-einmal“-Zeit singt Dorothea Maria Marx (Gretel) süß „Suse, liebe Suse“, und fordert mit „Brüderchen, komm tanz mit mir“ Hänsel (Hanna Larissa Naujoks spielt und singt diese Hosenrolle exzellent) zum Reigen auf. Kein Wunder, dass darüber der Reisbrei umkippt und der dramatische Sopran von Kelly God (Mutter) aufbrausend die Kinder in den Wald verbannt, Beeren zu sammeln. Die Sozialkritik steht nicht im Zentrum der zeitlosen und märchengetreuen Inszenierung; dafür lässt der Vater (Frank Schneiders, mit sattem und facettenreichen Bariton) als versoffener Kiepenkerl mit blauem Hemd und rotem Halstuch trotz aller Märchenszenerie einen echt norddeutschen Einschlag erkennen.

Walter Gondolfs Bühnengestaltung wird mit dem zweiten Bild deutlich poetischer. Auf den an sich rudimentären, telegrafenmastähnlichen Tannen zeichnen sich im blau-grünen Schein einige romantische Lichtflecken ab, und auch die Dramatik der Musik senkt sich deutlich, bevor sie sich mit dem Männlein, das im Walde steht, erheitert; das Kuckucksduo von Flöte und Klarinette trägt lautmalend zum Ambiente bei. Plötzlich zieht nächtlicher Nebel auf die Bühne und die in den Bäumen leuchtenden Augen der Waldbewohner ziehen große und kleine Besucher in ihren Bann. Das entzückende Sandmännchen (ist Marie-Sande Papenmeyer neben ihrem schönen Sopran nicht schon durch ihren Vornamen für diese Rolle prädestiniert?) verteilt allen sein einschläferndes Gut. Eines der schönsten Bilder entfaltet sich bei der Ankunft der Engelschar, die mit zartbunten Flügeln mittels einer großen Treppe vom Himmel hinabsteigt und, sich um die beiden Kinder gruppierend, einen himmlischen Schutzwall vor dem Harm bietet, den auch das Orchester mit einem sehr zarten Abendsegen abwendet.

Kitzelige Kinder, quicklebendige Sänger mit viel Schauspieltalent und tatsächlich auch der Duft von frisch gebackenem Brot erfüllen nach dem Weckruf vom quirligen Taumännchen (Eunhye Choi) die Bühne mit Leben, denn das Knusperhäuschen ist inzwischen wie aus dem Nichts auf Waldesgrund erschienen. Die Versuchung, die von ihm ausgeht, malen die Streicher unwiderstehlich in den Raum, aber da ist auch schon die Hexe: Khatuna Mikaberidze spielt sie raffiniert, und ihre hohen Töne sind voll. Leider kommt in diesem dritten Bild der Text in den Dialogen zwischen der Knusperhausbesitzerin und Gretel, deren bezaubernder Sopran in der Mittellage ebenfalls oft vom Orchester zu stark gedeckt wird, etwas ins Hintertreffen – aber es soll kein Zuschauer behaupten, er habe deswegen nicht verstanden, wie es weitergeht.

Und die alten Hasen, denen die traditionelle Hannoveraner Version von Humperdincks Märchenoper bereits bekannt ist, warten auf eben diesen szenischen Höhepunkt: Die Hexe schießt mit dem Besen bewaffnet in ihr Knusperhäuschen, in der nächsten Sekunde senkrecht aus dem Schornstein hoch aus dem Bild, überquert dann von rechts nach links und umgekehrt die Bühne in blitzartiger Geschwindigkeit, um auf dem selben Weg wieder in ihr Domizil zurückzukehren. Ganz ehrlich: ein großer Moment, und Quidditch ist ein Dreck dagegen.

Auch 2015 noch verwandeln sich die Lebkuchenkinder des Zaunes am Ende in einen etwas schüchternen, aber reizenden und gut intonierenden Kinderchor. Natürlich fragt man sich, ob die gewaltvolle Szene der im Ofen eingeschlossenen und dann lautstark explodierenden Hexe nicht eigentlich dem Jugendschutzgesetz unterliegt, aber die Ursünde liegt dann wohl doch bei den Gebrüdern Grimm, und so mancher auf der Bühne verzehrte Lebkuchen und etwaige Bonbons, die großzügig von der Hexe beim Schlussapplaus verteilt werden, mögen die schlimmsten Traumata lindern.

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