Drei Werke, drei Ensembles, drei Dirigenten, drei Stunden Aufführung: musikalische Eindrücke im XXL-Format durchlebten die Zuhörer bei der Ouverture Spirituelle der Salzburger Festspiele, heuer unter dem Motto „Sacrificium”. Opfer zu bringen kann Teil eines religiösen Ritus sein, aber auch oktroyierende Strategie eines Potentaten über sein Volk: „In tyrannos!“ Mit letzteren machte Luigi Nono 1983 seine Abrechnung in einem bei aller mikrostrukturellen musikalischen Linienführung klangmächtigen Proteststück, zu dem er Textfetzen aus autoritätskritischen Dichtungen des venezianischen Philosophen Massimo Cacciari nutzte.
In Guai ai gelidi mostri (Wehe den eiskalten Monstern) operieren zwei Altstimmen und sieben Instrumentalisten oft am Rande der akustischen Wahrnehmung. Abstufungen bis zu achtfachem Piano fordern konzentriertes Hören, differenziertes Beobachten, wie es ein politisches Anliegen des späten Nono gewesen ist. Dazu Live-Elektronik, die Nonos Geräuschklänge in seinen Farben zusätzlich umformt und durch Hallfilter oder Tonhöhentransposition erweitert, zu teils schmerzhaft schrillem Aufbäumen zwingt. Acht große Lautsprecher nutzten die Weite der Salzburger Kollegienkirche, hoben das punktuelle Podiumgeschehen in ein dreidimensionales Kreisen mobilen Klangs, ganz im Sinne Luigi Nonos. Die Klangregie und Instrumentalisten des souveränen Klangforums Wien unter Sylvain Cambrelings fantasiestiftendem Dirigat machten ein beeindruckendes orchestrales Klangerlebnis aus diesem im Experimentalstudio des SWR entstandenen Werk; Noa Frenkel und Elisa De Toffol mischten die Worte ins Klanggeschehen, deren Zusammenhang man gerne besser verstanden hätte (vielleicht durch Übertitelung).
Dass derzeit die politische Brisanz von Nonos Komposition auch einen Hinweis auf aktuelle kriegerische Ereignisse in der Ukraine vertragen hätte, die Einfügung einer entsprechenden Komposition ein mutiger Akzent, sicher in Nonos Sinn, gewesen wäre, muss angemerkt werden; ebenso, dass der Autor des englischsprachigen Teil des Programmhefts aus Nonos „Against Tyrants!“ die Suche nach neuen Wegen zum Frieden anmahnt, dies im deutschsprachigen Teil aber fehlt. Einblicke in einen nicht weniger monströsen Völkermord boten die weiteren Programmteile mit armenischen Kompositionen; deren reiche Musikkultur ist durch den von den Osmanen verübten Genozid um 1915 an den Armeniern weitgehend ausradiert worden.
So schmerzhaft schrill Nonos Anklage formuliert war, so geradezu spätromantisch tonal wirkte die anschließende armenische Totenklage. Der 1939 im libanesischen Exil geborene Tigran Mansurian, inzwischen wohl der bekannteste Exponent armenischer Musik, schrieb sein Requiem erst 2010, verbindet den Kanon der katholischen Totenmesse mit der sakralen Musik Armeniens, einem mehrheitlich von Christen bewohnten Land; füllt ihn in armenischer Sicht als stille ebenso wie aufbäumende Erinnerung an die Toten.
Die Melodik traditioneller armenischer Musik hatten sich die Streicher der Camerata Salzburg überzeugend zu eigen gemacht. Einem introvertiert getragenen Requiem aeternam folgte ein von rhythmischem Staccato geprägtes Kyrie. Statt Fanfaren dann ein Schrecken anderer Art: das Dies Irae in stammelnder, zerhackter Diktion, Silbenwiederholungen, harte Schlag-Geräusche der Bögen auf den Saiten der Instrumente. Ein ungewohnter Klang, doch die Trompeten des Jüngsten Gerichts hörten die Menschen damals in der kaukasischen Republik schrecklich präsent. Im Tuba mirum traten die Soli von Bariton und Sopran hinzu, teils rein vokal, dann mit einfühlsamer Choraussage, die vom 30-köpfigen Arnold Schönberg Chor (Einstudierung Erwin Ortner) prägnant formuliert wurde. Lediglich bei den Tenören (vielleicht auch akustisch ungünstig hinter dem Orchester platziert) hätte man sich zum Schönklang manchmal mehr Biss gewünscht.
Wunderbar lyrische Streicher mit Chor im Lacrimosa, dicht formuliert, und starke vokale Ausbrüche der beiden Solisten; Flore Van Meerssche und Mikolaj Trąbka, auf hinteren Emporen postiert, machten sich das klagende Lied der geschundenen Nation zu eigen, durch tiefen Eindruck sogar in den verhaltenen Passagen, ließen Mansurians Musik vor Leidenschaft lodern. Titus Engel am Pult setzte genaue Impulse, gab diesem erneuten Raumklang überzeugend Kontur.
Extreme Sparsamkeit der Ausdrucksmittel kennzeichnet die Musik Armeniens seit je, schrieb Mansurian einmal. Die ganze Breite dieser Musik führten die acht Sängerinnen des Geghard Vocal Ensembles vor, die Fragmente aus der armenischen Liturgie Patarag des Komponisten, Musikethnologen und Priesters Komitas Vardapet bezaubernd aufblühen ließen, klangschön mit spielerischer Virtuosität bei Spitzentönen und mit sonorem Glanz völlig natürlich ansprechender tiefer Register. Komitas überlebte den Völkermord, blieb aber nach seiner Freilassung ein seelisch gebrochener Mann.
Ähnlich den Liturgie-Projekten eines Michael Praetorius spannten sie den Bogen einer Märtyrer-Hymne des 728 verstorbenen Hl. Johannes von Odzun (traumwandlerisch sicher und schlicht begeisternd Anahit Papayan, charismatische Leiterin und Solistin des Ensembles) bis zum zeitgenössischen Vater unser des 1949 geborenen Eduard Hayrapetyan: Vokalklang in einer sehr liedhaften Sprache, der Grenzen von Alt oder Modern aufhob und zu einem berührenden und lange nachhallenden Erlebnis wurde.